■ Die polizeilichen Todesschüsse in Frankreich
: Schlechte Erinnerungen

Unter dem Stichwort „Hoffnung“ im Dictionnaire de la réforme des neuen französischen Premierministers Eduard Balladur heißt es: „Siehe Hoffnung, Bildung, Träume“. Ein junger Zairer, der regulär in Frankreich bei seinen Eltern lebte, träumt seit Dienstag abend nicht mehr. Als vermutlicher Dieb verdiene er es zweifellos, daß ihm die Gesellschaft einen Schrecken einjagt, um ihn davon abzuhalten, so weiterzumachen: Mit dieser Entschuldigungsfloskel hielt es ein routinierter Polizeiinspektor für angebracht, ihm seine Knarre unter die Augen zu halten. Eine Kugel in den Kopf, ohne auch nur ein Alibi von Eile oder Gefahr, während einer friedlichen U-Haft.

Sicher werden Balladur wie auch sein Innenminister Charles Pasqua die ersten sein, die über diesen „Zwischenfall“, wie der Beamteneuphemismus lautet, bestürzt sind. Er weckt schlechte Erinnerungen. 1986, als er zum erstenmal im Innenministerium am Beauveau-Platz weilte, wählte Pasqua einen Regierungsstil verbaler Attacken. So wurde gesagt, Polizisten würden „gedeckt“ und Terroristen „terrorisiert“. Das Ergebnis war eine Reihe von Übergriffen. Die nationale Polizei, die endlich den Weg einer Reprofessionalisierung einschreiten wollte, geriet so ins Zentrum einer politischen Debatte, die durch den Tod des Studenten Malik Oussekine bei den Studentendemonstrationen von 1986 noch verschärft wurde.

Dieses Abgleiten war kein unwesentlicher Faktor für die Niederlage Chiracs bei den Präsidentschaftswahlen 1988: Der verbale Exzeß wurde übersetzt in ein moralisches Defizit. In den Augen der Jugend sah sich die Rechte behindert durch ein undifferenziert brutales, repressives Image. Balladur weiß das sehr gut und präsentiert sich seither immer als Reformer und als Fortschrittsgläubiger. Auch Pasqua, der mit Simone Veil das unerwartetste Tandem an der Spitze der Regierungshierarchie bildet, hat gleich am 31. März erklärt: „Ich bin kein Spezialist für Knüppel. Ich weiß, daß andere Maßnahmen nötig sind.“ Er fügte hinzu: „Man muß luzide und hart arbeiten. Ohne die Beteiligung der Einwohner läßt sich nichts erreichen. Manchmal braucht man das Wort, denn das Wort ist eine Waffe, aber jetzt braucht man auch Mittel und Entscheidungen.“

Die förmliche Selbstkritik der Periode 1986–88 war willkommen. Ein Ausrutscher reicht sicher nicht, um sie zu dementieren. Aber was die Polizei jetzt treibt, ist ein ernstzunehmendes Warnsignal. Der Schuß, der den jungen Zairer tötete, fiel in einem Pariser Bezirk, wo Pasqua zur Verdeutlichung des politischen Wechsels eine Häufung der Identitätskontrollen von Ausländern angeregt hatte. Einer der Refrains des neuen Regierungsdiskurses ist die notwendige „Remotivierung“ der Polizei. „Die Polizeikräfte brauchen einen klaren politischen Willen“, hatte Jacques Chirac am 22. Februar erklärt. „Sie brauchen das Gefühl, daß man sie führt, daß man sie unterstützt, daß man sie schätzt.“ Für die polizeiliche Erinnerung ist ein solcher Diskurs immer ein Zeichen. Die Polizei ist eine fragile Institution, die eine harte Führung sicher braucht, aber diese muß sich in legitimer Autorität zeigen und nicht in Komplizenschaft. Wenn die Regierung an ihrem Reformdiskurs festhalten will, muß sie demagogischen Verlockungen beim Thema Innere Sicherheit widerstehen. Edwy Plenel

Kommentar aus „Le Monde“, 8.4.1993. Übersetzung: D.J.