Armenier müssen frieren oder Gott vertrauen

■ Armenien will aus Energiemangel ein AKW im Erdbebengebiet wieder anfahren

Eriwan – Wegen des Mangels an bezahlbarer Energie will Armenien das umstrittene Atomkraftwerk Metsamor wieder in Betrieb nehmen. Umweltschützer und das Umweltministerium versuchen dagegen immer noch, die Inbetriebnahme zu vehindern, weil die Sicherheitsvorkehrungen des Kraftwerks nicht ausreichen und der klapprige Meiler mitten in einem Erdbebengebiet steht.

Nach zwei aufeinanderfolgenden Wintern mit Temperaturen bis zu minus 30 Grad und ohne Heizung, Elektrizität oder fließendes Wasser sind die Armenierinnen und Armenier in ihrer überwältigenden Mehrzahl dafür, das Atomkraftwerk wieder in Betrieb zu nehmen. „Wir müssen aus dieser Katastrophe heraus; noch so einen Winter halten wir nicht aus. Die Toleranzschwelle der Leute sinkt“, sagt Energieminister Steve Taschijan, ein Armenier-Amerikaner mit 20jähriger Erfahrung bei der South-California-Edison- Energie-Gesellschaft.

„Ökonomisch ist es von höchster Bedeutung. Es wird wesentliche Profite bringen. Es wird die Brennstoffimporte um zehn Prozent senken und 28 Prozent unseres Elektrizitätsbedarfs decken“, fügt Wirtschaftsminister Armen Yeghiasarian hinzu. Taschijan berechnet, daß Armenien 2.000 Megawatt Kraftwerksleistung braucht, von denen 815 das AKW Metsamor liefern könnte. Premierminister Ilrant Baghradian setzte sich seit Jahren für die Wiedereröffnung des Kraftwerks ein, das nach einem starken Erdbeben im Dezember 1988 stillgelegt worden war.

Ende März gab das Parlament dann seine Forderung auf, vor einer Wiederinbetriebnahme des Kraftwerks eine Volksabstimmung durchzuführen. Die Abschaltung der beiden in der Sowjetunion gebauten WWER-440-Reaktoren des Kraftwerks (Typ Greifswald) war eine Schlüsselforderung der armenischen Nationalistischen Bewegung gewesen, die 1989 an die Macht kam und in der Folge ein Gesetz erließ, wonach ein Wiederanfahren nur nach einer Volksabstimmung möglich sei. „Jetzt bin ich sicher, daß es wiedereröffnet wird“, strahlt Baghradian. Der fünfjährige Krieg mit dem benachbarten Aserbaidschan um Nagorny Karabach, eine armenische Enklave auf aserbaidschanischem Territorium, sowie die aserbaidschanische Wirtschaftsblockade, die Armenien lähmt und nach jeder sich bietenden Energiequelle greifen läßt, hat die Umkehr in der öffentlichen Meinung gegenüber dem Atomkraftwerk ausgelöst.

Nach regierungsamtlichen Schätzungen liegen die Kosten der schnellen Wiederinbetriebnahme der Atommeiler zwischen 20 und 100 Millionen Dollar. „Es ist falsch zu glauben, man könne die Anlage schnell wiedereröffnen. Technisch ist das nicht möglich, die Anlage ist geplündert und ausgeschlachtet“, meint dagegen Emin Arteschian, ein Armenier, der als kanadischer Vertreter in Eriwan amtiert. Besucher in Metsamor berichten von offensichtlichem Niedergang. Die Glasscheiben in den Eingangstüren der Anlage sind längst verschwunden. Der Eingang zum Kontrollraum ist ständig geöffnet, und wo früher zahllose Meßgeräte die Kontrollwände füllten, öffnen sich heute riesige Löcher.

Taschijan und andere Offizielle behaupten, es werde nur sechs Monaten dauern, um festzustellen, ob die Reaktoren wieder gestartet werden können und welche Reparaturen notwendig sind. Framatome, der französische Reaktorbauer, kam neulich dagegen zu dem Schluß, es werde mindestens 18 Monate dauern und 100 Millionen Dollar kosten, die Anlage wieder in Betrieb zu nehmen. Umweltschützer sagen, die Reaktoren könnten einem weiteren Erdbeben kaum widerstehen. Sie seien ohne eine Betonkuppel gebaut worden, die im Falle eines Unfalls die Strahlung eindämmen könnte.

„Die Regierung hat keine Ahnung, was sie im Falle eines Unfalls tun soll. Zum Beispiel sind die Reaktoren in der Nähe eines Süßwasserreservoirs gebaut. Eine Explosion würde Armeniens Wasser auf Jahrhunderte verseuchen“, warnt Samvel Schahinian, ein Geophysiker, der dem parlamentarischen Ausschuß für Naturschutz und natürliche Ressourcen vorsitzt.

Statt Atomkraft befürwortet Schahinian den Bau kleiner Wasserkraftwerke im ganzen Land. Aber Schahinian und andere Kritiker haben ihren Kampf fast aufgegeben. „Wir haben keine Hoffnung, daß das Parlament für alternative Energie stimmen wird“, sagt er. „Wir haben auch keine Hoffnung auf internationale Hilfe“, fügt Umweltminister Karen Danelian hinzu. „Unvermeidlich wird der nächste Winter schwierig. Es gibt keine Alternative, keinen anderen Ausweg.“ James M. Dorsey

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning