Was kann dort gelagert worden sein?

■ Der Physiker Wolfgang Neumann über mögliche Auslöser für den Unfall in Tomsk-7

Wolfgang Neumann ist Mitarbeiter des Ingenieurbüros „Gruppe Ökologie“ in Hannover.

taz: In der Anlage Tomsk-7 wurde Plutonium für Atomwaffen hergestellt. Nach allem, was wir bisher wissen, hat sich der Unfall in einem Tank für radioaktive Abfälle ereignet. Was kann darin gelagert worden sein?

Wolfgang Neumann: Es handelt sich offenbar um ein Lager für Produkte aus der Wiederaufarbeitung. Deshalb sind Behälter zu erwarten, in denen sich Plutonium- Urangemische befinden, eventuell Behälter für reinere Uran- oder Plutoniumlösungen oder auch für andere hochaktive Spaltprodukte, wie sie beim Betrieb eines Atomreaktors entstehen.

Rußlands Atomminister sagte, daß in diesem Tank vor dem Unfall die Temperatur angestiegen sei. Was kann das bedeuten?

Es käme mit Sicherheit zu einer schlagartigen Erhöhung der Temperatur, wenn die Anordnung einer kritische Masse erreicht würde, das heißt, wenn die atomare Kettenreaktion einsetzte.

Nachdem dieser Temperaturanstieg beobachtet wurde, hat man offenbar beschlossen, Salpetersäure „hinzuzugeben“. Ist das eine plausible Maßnahme?

Beim Prozeß der Wiederaufarbeitung ist Salpetersäure eine wichtige Komponente. Sie dient dazu, Uran und Plutonium aus den Hüllen der abgebrannten Brennstäbe herauszulösen und in späteren Stufen des Prozesses Uran und Plutonium zu reinigen. Mit einer weiteren Zugabe derselben Chemikalie hätte man eigentlich nicht viel falsch machen können, da keine unvorhersehbaren chemischen Reaktionen zu erwarten sind. Eine andere wichtige Komponente der Wiederaufarbeitung ist ein organisches Lösungsmittel, das gebraucht wird, um Uran und Plutonium von den anderen Spaltprodukten zu trennen.

Wäre demnach der Unfalltank ein Bestandteil der Wiederaufbereitungsanlage gewesen?

Die bekannten Fakten deuten darauf hin, daß es sich um einen Behälter zur eher kurzfristigen Aufbewahrung dieser Stoffe auf einer bestimmten Stufe der Wiederaufbereitung handeln könnte.

Die Salpetersäure hatte offenbar nicht die erwünschte Wirkung. Nach derselben Quelle stieg danach die Temperatur schnell sehr hoch an, es kam zu einer Explosion, die einen „tonnenschweren“ Betondeckel weggesprengt hat, wie es heißt. „Das dazugehörige Gebäude“ sei „vollständig zerstört“.

Dieser Verlauf deutet darauf hin, daß eine Kettenreaktion eingesetzt haben könnte. Die Zugabe der Salpetersäure hat diesen Prozeß möglicherweise beschleunigt. Salpetersäure kann freigewordene Neutronen moderieren und damit zur Kettenreaktion beitragen. Allerdings sollten Lagerbehälter so konstruiert sein, daß kritische Massen nicht entstehen können. Aber in keinem Fall ist eine unkontrollierte Kettenreaktion grundsätzlich ausgeschlossen, übrigens auch in westlichen Anlagen nicht. Zum Beispiel kam es 1964 in Woodriver Junction beim Umfüllen von in Säure gelösten Kernbrennstoffen zu einer solchen unkontrollierten Kettenreaktion, in deren Folge Betriebspersonal tödlich verletzt wurde. Aber die Aussage „sehr schneller Temperaturanstieg“ kann verschieden gedeutet werden. In Tomsk könnte sich auch eine Wasserstoffexplosion ereignet haben. Die Strahlung könnte das erwähnte Lösungsmittel zersetzt und Wasserstoff freigesetzt haben, der dann mit dem Sauerstoff der Restluft in dem Behälter explosiv reagiert hat. Allerdings wäre damit der langsame Temperaturanstieg nicht erklärbar. Wahrscheinlicher ist die Annahme einer unkontrollierten Kettenreaktion, also einer Atomexplosion.

Was heißt das für die radioaktive Verseuchung der Umgebung?

Die Strahlenbelastung kann sehr hoch werden. Durch die Spaltung des Plutoniums entsteht eine ganze Reihe von Gamma- und Betastrahlern, die kurz und mittelfristig in einem Zeitraum von etwa fünf Jahren die Umgebung belasten. Interview: Niklaus Hablützel