Wer ist der Schönste im Land?

Wahl des „Mister Berlin 1993“ am Ostersonntag läßt Frauenherzen höher schlagen / Statt südländischen Charmes war preußische Haltung gefragt  ■ Von Barbara Bollwahn

Neukölln. Nico Janke mit der Startnummer 03 weiß schon vor Beginn des ersten Durchlaufs, daß er nicht der Sieger des Abends sein wird. Obwohl er seit Tagen zu Hause vor dem Spiegel lockere Laufschritte geübt hat, spürt er wenige Minuten vor seinem Auftritt, daß „ich immer noch zu steif in den Beinen bin“. Dem 18jährigen Polizeibeamten im ersten Lehrjahr wird wohl erst jetzt klar, daß es nicht sein ureigenster Wunsch war, bei der Wahl des „Mister Berlin“ 1993 teilzunehmen. Was bringt ihn und weitere fünfzehn Männer, darunter Kfz-Mechaniker, Studenten, Werkzeugmacher und einen 38jährigen U-Bahn-Zugfahrer dazu, Hunderte von Mark für Anzug, Krawatte und teure Designer-Bodies auszugeben und sich an diesem Ostersonntag im Laserlicht der Diskothek „Joe Hasenheide 13“ zu zeigen? Bei manchen ist es die Hoffnung auf einen lustigen Abend vor Freunden und Eltern, bei anderen eine verlorene Wette beim „Trivial Pursuit“. Bei Nico aber war es Nicole von der „Mister Germany Corporation“, die ihn vor Wochen bei der Wahl des Mister Nordberlin an seinem eitlen Punkt traf und dafür sorgte, daß aus dem einst passiven Zuschauer ein aktiver Kandidat wurde. Nun steht er da und büßt für seine leichtfertige Zusage mit Schweißperlen auf der Stirn und verkrampften Beinen, die ihn nur über die erste Runde tragen werden.

Die Wahl des schönsten Berliners verläuft nach einem exakt festgelegten Zeremoniell. Pathetische Trompeten- und Paukenklänge künden den gemeinsamen Auftritt der sechzehn Kandidaten an. Obwohl ihnen im ersten Durchgang bei der Wahl der Kleidung völlig freie Hand gelassen wurde, dominieren Sakkos, Schuhe mit perforiertem Muster, Schlips und Bundfaltenhosen. Auch die farbliche Bandbreite der Jacketts von grellorange bis zartmintgrün ändern nichts an der merkwürdig uniformen Erscheinung von Nummer 01 bis 16.

Da fällt es der Moderatorin – von allen liebevoll Viviane genannt – mit ihrem schulterfreien hochgeschlitzten schwarzen Samtkleid nicht schwer, die männliche Kleidertristesse zu durchbrechen. Weniger originell dagegen ist ihre professionelle Begeisterung darüber, „daß endlich die Herren der Schöpfung an der Reihe sind“. Brav zählt sie die Jurymitglieder auf: Vom ARD-Moderator über Miss Weißensee und Miss Zehlendorf und Vertreter eines Sport- und Freizeitcenters ist alles vertreten, was sein Gesicht unter Schminke verbergen kann.

Die Arbeit der Jury ist wahrlich nicht leicht. Das Cocktailglas mit rotlackierten Nägeln fest im Griff, begutachten gelockte Blondinen und blasse Sportstudioangestellte den steifen Gang der überwiegend deutschen Teilnehmer. Das südländische Temperament eines Ibrahim oder Cem mit kreisenden Hüften und Augenzwinkern hat keine Chance. Auch nicht das tadellos glänzende schwarze Haar und der Adoniskörper des 21jährigen Syrers Emad. Mit rollenden Augen wird sein Auftritt von einem blassen männlichen Jurymitglied kommentiert: „Jetzt brauchen wir auch noch einen Dolmetscher.“ Gefragt sind fleißig eingeübte Schrittkombinationen und Pirouetten auf dem Laufstegtreppchen – Lebensfreude wie im Musikantenstadl. Wäre da nicht der aufgeregt hüpfende Adamsapfel, viele Kandidaten wirkten wie aufgetaute Tiefkühlkost.

Vorwiegend junge Mädchen mit gefärbten oder toupierten Haaren stehen sich wenige Meter vor der Bühne die Beine in den Bauch, um ihren Lieblingskandidaten nicht aus den Augen zu verlieren. Die zwei Freundinnen Sandra und Sandra trifft fast der Schlag, als sie 07 auf der Bühne erblicken. Der eitle Kfz-Mechaniker war ihnen schon am Samstag im Kinopublikum aufgefallen, als sie „For ever young“ sahen. Für seinen Auftritt im schwarzen Rolli und rotem Jackett erntet der 24jährige mit den aus Katalogen bekannten markanten Backenknochen nicht nur von den Busenfreundinnen tosenden Applaus. Sandra und Sandra schreien hysterisch und können ihr Glück nicht fassen. Als dann ihr Carsten Stüwe im zweiten Durchgang – bekleidet mit einem schwarzen Body, der die Goldkette auf der haarlosen Brust vollends zur Geltung bringt –, seine Hand mit dem Brillanten schützend vor den Hosenschlitz legt, schmelzen die Wirtschaftskauffrau und die Schrift- und Leuchtreklameherstellerin vollends dahin. Ihren Geschmack teilte auch die Jury. Von den acht ausgewählten Kandidaten wird 07-Stüwe gegen Mitternacht vor Hunderten von Zuschauern zum „Mister Berlin“ gekürt. Auch seine professionellen Statements über Bremsenprüfstände und Hebebühnen – er ist im Außendienst einer Autofirma tätig – werden wohlwollend aufgenommen. Die Nationalhymne erklingt, und Carsten faßt sich immer wieder ans Herz. Liebevoll streichelt er die schwarz-rot-goldene Schärpe. Berlin hat seinen Mann gestanden.