Nicht für alle und jeden

Julien Greens Roman „Jeder Mensch in seiner Nacht“  ■ Von Béatrice Durand

Wilfred Ingram ist vierundzwanzig und schläft jede Nacht mit einer anderen Frau. Da er jedoch katholischen Glaubens ist, bereut er seine nächtlichen Exzesse am nächsten Morgen bitterlich. Daß er seinen Trieben immer wieder unterliegt, stürzt ihn in Verzweiflung.

Am Sterbebett seines Onkels begegnet er in diesem einem ähnlichen Schicksal, vielleicht dem Bild seiner eigenen Zukunft. Katholisch in einer protestantischen Umgebung (dem südlichen amerikanischen Staat Virginia) aufgewachsen, hat der Onkel einen Ruf, der nach Schwefel riecht. Die Skandale seiner vielen Liebesaffären, oft mit sehr jungen Mädchen, wurden mit Geld vertuscht. Wilfred wird sich lange mit der Frage beschäftigen, ob der Onkel oder er selbst verdammt sind. Immer wieder wird er mit Figuren, die zwischen Glauben, Moral und Trieb hin und her gerissen sind, konfrontiert: mit seinem Cousin Angus, mit Max, der Wilfred mit seiner demutvollen Liebe und seinen Obsessionen verfolgt und mit Freddie, dem Arbeitskollegen. Wilfred findet bei diesen Menschen die konfliktgeladene Spannung zwischen Begehren und katholischer Moral wieder. Diese Erfahrung erweckt bei Wilfred aber kein Mitleid. In Greens Welt bleibt, wie es der Titel des Romans will, „jeder Mensch in seiner Nacht.“

Die erzählerische Ironie will nun, daß Wilfred jene erotische Anziehung, der er selbst zum Opfer fällt, auf Frauen und Männer gleichermaßen ausübt. Max und Angus verlieben sich in ihn. Green verzeichnet kühl Wilfreds intime Verhandlungen um seine Erlösung: Es sind narzistische und heuchlerische Versuche, das Gewissen zu beruhigen. Wilfred wird geliebt, ohne zu lieben; er selbst fühlt sich zu Frauen hingezogen, die ihm nichts bedeuten und die er verachtet; bis er seiner wahren, aber wiederum unmöglichen Liebe begegnet. Die verheiratete Phoebe zu lieben hieße nämlich, die Sünde des Ehebruchs zu begehen. Green zerschlägt den Knoten, in dem sich die Fäden von Glauben und Begehren verschlungen haben, indem er Wilfred von Max, dem verachteten und in den Wahnsinn getriebenen Liebhaber, erschießen läßt, bevor Wilfred und Phoebe sich noch des Ehebruchs schuldig machen können.

Trotz der Schärfe der Analyse und der erzählerischen Spannung ist es Green nicht gelungen, Wilfreds Dilemma glaubwürdig zu machen. Ironischerweise überzeugt Greens Darstellung der Versuchung des Fleisches nicht, wohl aber die der religiösen Gefühle und Glaubensbekundungen, die Wilfred ständig im Munde führt, obwohl allein diese sein Leben zur Sünde machen.

Denn selten wird so klar wie in „Jeder Mensch in seiner Nacht“, daß moralische Kodes relativ sind: Wilfred bräuchte nur zu entscheiden, daß Sex keine Sünde ist und sein innerer Konflikt wäre gelöst. Max, der selbst mit verschiedenen moralischen Standards lebt, rät ihm, die Religion pragmatisch zu handhaben.

Warum Wilfred das nicht vermag, bleibt in der Erzählung nebelhaft. Was ist an seinem Glauben so stark, daß Wilfred ihm trotz innerer Qual die Treue hält? Woran glaubt er? Was ist an der religiösen Erfahrung so hinreißend und herausfordernd, daß man ihretwegen auf irdische Lüste verzichten möchte? Der Text gibt keinen Hinweis. Die einzige Dimension des Katholizismus, die dargestellt wird, ist die des Verbots. Wilfred hat eine perverse Freude an der Vorstellung vom Fegefeuer und der Verdammnis. Bei ihm erscheint das Verbot als ein Prinzip, das die ganze Identität strukturiert.

Einmal sagt er, daß der Glaube bei manchen Menschen einfach „da“ sei: man habe „all das im Blut“. Expliziter wird er aber nirgends. Setzt Green beim Leser eine religiöse Erfahrung und eine mit ihr verbundene Sexualmoral voraus? Der Leser ist doch per definitionem ein Ungläubiger wie einst der Heilige Thomas, der nur das glaubte, was er sah.

Julien Green ist ein Schriftsteller der existentiellen Konflikte. Andere seiner Romane, wie etwa „Leviathan“ oder die wunderbare Erzählung „Der andere Schlaf“ haben ihre Aktualität nicht verloren. „Jeder Mensch in seiner Nacht“, zuerst 1960 erschienen, wirkt heute bereits altmodisch mit seinem Klang nach miefigem Katechismus und jenen Aufklärungsbüchern für junge Eheleute, über die der Protagonist selber sich lustig macht. Freilich hat die sexuelle Revolution, wenn es sie gegeben hat, Überlegungen über Sexualmoral nicht obsolet gemacht. Wilfreds buchstabengetreue katholische Moral kommt uns da aber doch ein wenig karikaturenhaft vor.

Julien Green: „Jeder Mensch in seiner Nacht“, Roman. Aus dem Französischen von Ernst Sander. Hanser Verlag, 1992. 368 Seiten, geb., 39.80 DM.

Der Hanser Verlag veröffentlicht eine Ausgabe des erzählerischen Werks von Julien Green. Bisher erschienen: Leviathan (1986), Mont-Cinère (1987), Der andere Schlaf (1988), Moira (1989), Die Sterne des Südens (1990) und Treibgut (1991).