Kirschblüte bringt den Aufschwung

Ein Stimmungswechsel hat die Wirtschaftsmacht Japan erfaßt / Das Ende der Krise ist dank des staatlichen Konjunkturprogramms in Sicht  ■ Aus Tokio Georg Blume

„Wenn jemand dich nach dem Geist des wahren Japaners fragen sollte, so deute auf die wilde Kirschblüte hin, die in der Sonne glänzt.“ Nichts fiele derzeit leichter, als dem Ausruf des japanischen Dichters Motoori aus dem Mittelalter zu folgen, wenn man nach dem wahren Zustand der japanischen Wirtschaft fragt.

Herrschte gestern noch winterliche Trübnis über die wirtschaftlichen Aussichten, warnen allgegenwärtige Staatsdiener heute bereits wieder vor den Gefahren eines neuen Booms. Premierminister Kiichi Miyazawa aber hat frohen Herzens erkannt: „Der Aufschwung ist in Sicht.“ Wer das bezweifelt, den lädt der Regierungschef zum Duftspaziergang unter den Kirschblüten des Kaiserpalasts ein. Dort ist es dann jedem klar: In Japan geht die Sonne auf, nicht unter. Wer hatte nicht jüngst das Gegenteil behauptet?

Doch wer den Verantwortlichen nicht an den Lippen hängt, hört es die Spatzen von den Dächern pfeifen: Die Wirtschaft habe ihren Tiefstpunkt erreicht; der Wirtschaftsplan bringe den Durchbruch. Die Tokioter Zeitungskioske, vor wenigen Tagen noch von abschreckenden Krisengespenstern umzingelt, verbreiten geradezu euphorisch die neuen Signale aus den Himmel der Finanztürme. Von dort nämlich wird vermeldet, was alle Krisengefühle in Japan tilgen kann: Tokios Herz, die Börse, sei wieder zu neuem Leben erwacht.

Am Ostermontag schloß die Tokioter Börse bei stolzen 19.882,14 Punkten, 17 Prozent höher als zu Jahresbeginn. Zum ersten Mal in elf Monaten schlug der Nikkei-Aktienindex vergangene Woche gar über die 20.000 Punkte aus. Vor drei Jahren wäre der Jubel über diesen Sprung noch unvorstellbar gewesen. Damals näherte sich der Nikkei der 40.000-Punkt-Marke. Welch eine Erleichterung, daß die Japan AG heute zumindest wieder die Hälfte ihres einstigen Spekulationswertes zurückerobert hat.

Drei Jahre war nur noch von der zerplatzten „Blasenwirtschaft“ die Rede, von Skandalen, faulen Krediten und Bankrotten. Erst im letzten August hatte der Nikkeiindex die Schmerzgrenze der 15.000 Punkte unterschritten; die gesamte Finanzindustrie – Banken, Kreditbanken, Lebensversicherungen und Wertpapierhäuser – schrieb zu diesem Zeitpunkt rote Zahlen. Da mag es vielen Japanern tatsächlich wie ein Frühlingswunder erscheinen, wenn heute sogar die Börse wieder blüht.

Langsam lockern auch die großen Unternehmen ihre schweren Glieder für neue Übungen. Das Mitsubishi-Handelshaus, Zentralglied der weltgrößten Unternehmensgruppe, begann noch am Karfreitag seine drückenden Prognosen für den zukünftigen Wirtschaftslauf zu revidieren. Vielversprechender noch: NEC, der angeschlagene Chipgigant, ließ zu Ostern vermelden, daß „die Dinge wieder besser gehen“ und man bereits im Dezember 1992 den Tiefstpunkt durchschritten habe.

Nicht nur die Japaner glauben den Orakeln. Allen voran das angesehene amerikanische Wertpapierhaus Morgan Stanley erhöhte den Anteil japanischer Aktien in seinen Investitionsempfehlungen von 9,9 Prozent auf 22,6 Prozent. Der gleichen Ansicht ist auch die Deutsche Bank in Tokio: „Zu keiner Zeit im ökonomischen Kreislauf sind die allgemeinen Indikatoren irreführender als in dem Moment, in dem die Dynamik umschlägt“, erklärt Professor Kenneth Courtis, Chefökonom der Deutschen Bank. Courtis, dessen oft bestechende Analysen längst zum Handwerkszeug der neuen Administration in Washington gehören, gibt damit erstaunlicherweise genau jener Frühlingsstimmung der Japaner recht, die leichtfertig vom Aufschwung spricht, wo handfeste Konjunkturbeweise weiterhin fehlen. „Ende 1987,“ erinnert sich der amerikanische Gelehrte in deutschen Diensten, „wurden für Japan zweistellige Arbeitslosenzahlen prognostiziert, während das Land in Wirklichkeit an der Schwelle zu dem längsten und größten Expansionszyklus seiner modernen Geschichte stand.“

Übersehen wir also die herkömmlichen Wegweiser! Noch immer streichen die Unternehmer ihre Kapitalinvestitionen zusammen; die Bank of Japan sieht hier 1993 gar Rückgänge um 14,5 Prozent. Noch immer sinkt auch die Nachfrage der Verbraucher durchschnittlich um 2 Prozent. Selbst die Arbeitslosenzahlen sind nicht so stabil, wie sie auf den Statistiken des japanischen Arbeitsministeriums erscheinen. Dort werden nur die sich arbeitlos meldenden Personen vermerkt. Bedeutender ist, daß die Zahl der Arbeitskräfte insgesamt zum ersten Mal seit sieben Jahren sinkt. Im Februar betrug die Rate 0,4 Prozent. Eiichiro Kinoshita, ein Manager der Zentralbank, brachte die Einsicht der Pessimisten auf den Punkt: „Weil der Konsum schwach ist und die Unternehmen ihre Investitionen beschränken, bin ich wenig zuversichtlich.“ Doch da hörte schon keiner mehr hin.

Hatte nicht vor ihm sogar der konservative Chef der Zentralbank, Yasushi Miono, von einem Stimmungswechsel gesprochen? „Gegenwärtig ist die Wirtschaft in einer tiefen Krise, aber das Geschäftsvertrauen kann sich von nun an nur wieder steigern.“ Nach dieser Prognose geriet sogar das Konjunkturprogramm der Regierung wieder ins Schwimmen.

Waren die Steuergelder überhaupt noch nötig, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen? Sage und schreibe 170 Milliarden Mark will die japanische Regierung zur Belebung der Wirtschaft in öffentliche Bau- und Infrastrukturprogramme schütten, obwohl die Leitzinsen mit 2,5 Prozent bereits einen historischen Tiefststand erreicht haben. Noch in letzter Sekunde strichen Bürokraten im Finanzministerium das Programm zusammen, welches heute von der Regierung offiziell verabschiedet werden soll. Über zwanzig Milliarden Mark wurden auf diese Art gespart.

Doch wer als zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt seit sechs Jahren ein Staatsbudget mit Gewinn verbucht, kann sich solche Ungenauigkeiten leisten. Die Großzügigkeit kommt zur rechten Zeit: Wenn nämlich die Außen- und Finanzminister der G-7- Gruppe diese Woche in Tokio über die Hilfe für Rußland konferieren, erwarten sie von Japan nichts anderes. Aber auch Präsident Bill Clinton, der den japanischen Premierminister Miyazawa am Freitag in Washington zum Antrittsbesuch empfängt, beansprucht teure Gesten. Wie gut also, daß die Kirschen in Japan noch blühen. Sonst könnte sich der Geist des wahren Japaners am Ende gar als sparsam und knickerig erweisen, wovon derzeit wahrlich keine Rede ist.