In der Nacht gehört Gaza dem Besatzer

Seit zwei Wochen sind die von Israel besetzten Gebiete nun abgeriegelt. Die tägliche Begegnung mit dem Besatzer im Palästinenser-Flüchtlingslager Rafah im Gaza-Streifen ist von Spannung begleitet. Es herrscht Nervosität – auf beiden Seiten.

Alle im Raum kennen es, das nächtliche Brummen der israelischen Militärjeeps, die sich dem Haus langsam nähern. Dann stockt hier im Flüchtlingslager Rafah im südlichen Gaza-Streifen das Gespräch, der Fernseher wird leiser gedreht. Großmutter Umm Muhammed schickt ihren Enkel ans Fenster. Vorsichtig hält dieser Ausschau, von der Angst begleitet, die Jeeps der Besatzungstruppen könnten genau vor ihrem Haus eine Pause machen. Seit fünf Jahren fast jede Nacht dieselbe Szene. Denn seit Beginn des palästinensischen Aufstands gegen die israelischen Besatzer herrscht im gesamten Gaza-Streifen eine nächtliche Ausgangssperre. Die ländliche Kulisse eines gelegentlich murrenden Esels oder eines krähenden Hahnes wird nur von den Jeeps und den Geräuschen der Funkgeräte unterbrochen. „Ab neun Uhr gehört die Welt da draußen ihnen“, erklärt Umm Muhammed – erleichtert, daß der Motorenlärm langsam wieder von der Stille des Lagers verschluckt wird.

Seit der Deportation von über 400 Palästinensern vor vier Monaten, so erzählen alle im Lager, ist die tägliche Begegnung zwischen Lagerbewohnern und Militärs von besonderer Spannung begleitet. Nervosität herrscht auf beiden Seiten. Unentschlossen spielt der palästinensische Taxifahrer mit dem Gaspedal und dem Rückwärtsgang, als er eine israelische Militärpatrouille vor uns auftauchen sieht. Die Aufmerksamkeit und damit auch die Waffen der Soldaten sind sofort auf uns gerichtet. „Entweder du fährst langsam weiter, oder du bleibst für ein paar Minuten stehen“, gibt einer der Fahrgäste dem Fahrer schnell zu verstehen. Nervös geben sich die Soldaten gegenseitig Rückendeckung, während ihr Jeep mit laufendem Motor an der Ecke wartet.

Seit dem 31. März ist die Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und Israel nun abgeriegelt – aus Gründen der Sicherheit, wie die israelische Regierung argumentiert. Allein im letzten Monat wurden 15 Israelis von Palästinensern, die aus den besetzten Gebieten stammen, ermordet. Nach einer anfänglichen Totalsperre erhalten jetzt nur wenige palästinensische Arbeiter eine Sondergenehmigung, um nach Israel zur Arbeit zu fahren. Schätzungsweise über 30.000 palästinensische Arbeiter fuhren vor der Abriegelung Tag für Tag vom Gaza-Streifen nach Israel. Jetzt sitzen sie ohne jegliche Arbeit, frustriert und verärgert, zu Hause bei ihren Familien. In vager Vorahnung dessen, was da kommen könnte, haben die israelischen Militärs weitere Vorsorgemaßnahmen getroffen: Die Beobachtungstürme in den Lagern sind höher geworden, manche der Jeeps bekamen ein zusätzliches Maschinengewehr aufmontiert, noch mehr Straßen wurden mit einzementierten Fässern und die Gebäude der israelischen Zivilverwaltung weiter zu Festungen ausgebaut.

Besondere Präsenz zeigt die israelische Armee in Khan Yunis, nur wenige Kilometer nördlich von Rafah gelegen, wo im vergangenen Monat eine Siedlerin ermordet wurde. Die Besatzer reagierten damals mit einer dreitägigen Ausgangssperre und massiven Truppenverstärkungen. Bei jedem Steinwurf eröffneten die Soldaten, die auf den Dächern von Khan Yunis Posten bezogen hatten, das Feuer. Allein in einer Woche Mitte März wurden neun Palästinenser erschossen und Hunderte verletzt.

Khan Yunis ist prädestiniert für Spannungen. Die Wirtschaft des ohnehin ärmlichen Landstriches liegt durch die ständigen Abriegelungen des Gaza-Streifens und die regelmäßigen Ausgangssperren vollkommen darnieder. Dafür haben die Einwohner die nächstgelegene israelische Siedlung jeden Tag vor Augen. Fast zwei Dutzend der im Dezember deportierten Anhänger der islamistischen Hamas-Bewegung und der Gruppe Jihad Al-Islami stammen von hier. Zusammen mit einem militanten Flügel der palästinensischen Fatah-Gruppe sind diese für mehrere militante Aktionen gegen Siedler und Soldaten in und um Khan Yunis verantwortlich. Fast den gesamten Dezember wurde nach solchen Aktionen über Khan Yunis eine Ausgangssperre verhängt.

Seit der Deportation wurden 22 Einwohner von Khan Yunis erschossen. Auf den israelischen Ministerpräsidenten Rabin ist man hier nicht gut zu sprechen. Ein Viertel aller in den letzten fünf Jahren getöteten Einwohner geht auf Kosten von Rabins zehnmonatiger Regierungszeit. „Diese Statistik, nicht das Friedensversprechen Rabins ist es, was für die Menschen hier zählt“, erklärt ein Journalist aus Khan Yunis, während er in seinem Büro die tägliche Statistik von Erschossenen, Verletzten, zerstörten Häusern und Verhaftungen gewissenhaft um die neuesten Fälle ergänzt.

Verwüstungen sind durch Suchaktionen legitimiert

Die Aktionen der Armee nehmen hier seit einigen Monaten bisher nie gekannte Dimensionen an. Auf der Suche nach Palästinensern, die auf den israelischen Fahndungslisten stehen, hinterließ die Armee vor zwei Monaten 19 Häuser im Hay-Al-Amal-Viertel in Khan Yunis in unbewohnbarem Zustand. Heute sind die Einwohner dabei, die Schäden zu beseitigen oder ihre Häuser von Grund auf zu renovieren. Nach ihren Aussagen umstellte die Armee am 11. Februar den Block und forderte die Bewohner auf, die Häuser unverzüglich zu verlassen und Türen und Fenster offen zu lassen. Sämtliche Männer des 186 Einwohner zählenden Blocks wurden gefesselt. Was die Nachbarn dann zu sehen bekamen, übertraf alles bisher Dagewesene: Die Soldaten gingen von Haus zu Haus und beschossen die Gebäude mit Panzerabwehrgranaten. Anschließend betraten sie die Häuser, um mit automatischen Waffen wild um sich zu schießen. Einige der Häuser wurden mit Dynamitladungen völlig zum Einsturz gebracht. Das in Gaza ansässige Zentrum für Recht und Gesetz bezeichnete die Operation als „einen Teil der Regierungspolitik, gesuchte Personen zu fassen, indem man Druck auf die Familien und ihre Umgebung ausübt, anstatt sich ausschließlich auf die Gesuchten zu konzentrieren“.

Verwüstete Häuser im Rahmen breiter Suchaktionen der Armee sind durchaus kein Einzelfall im Gaza-Streifen. Im südlichen Flüchtlingslager Rafah, in unmittelbarer Nähe zur ägyptischen Grenze gelegen, sind die Ereignisse vom sogenannten Block G in aller Munde. Der Block, eine Ansammlung von ärmlichen Zement- und Wellblechhütten und Holzverschlägen, stand nach der Ermordung eines Siedlers letzten Monat für 23 Tage unter Ausgangssperre. Am 26. März machte sich die Armee auf die Suche nach Palästinensern, die auf ihrer Fahndungsliste standen. Auch hier verfuhr die Armee mit Panzerabwehrgranaten, Dynamit und automatischen Waffen, gefunden wurde niemand.

Eines der Ziele war das Haus von Abu Ziam. Insgesamt 50 Menschen leben hier auf engstem Raum. Ihr weniges Hab und Gut wurde während der Operation kurz und klein geschossen, ein Teil des Hauses wurde in die Luft gesprengt. Einen anderen Ort gibt es für die Bewohner nicht, und so leben sie weiter inmitten dieser Umgebung, die sie tagtäglich an die Besatzung erinnert. Kein einziger Wandspiegel hat die Aktion überlebt. „Bring die durchschossenen Blechschüsseln in die Küche. Zeig ihm die durchsiebte Decke.“ Aufgeregt holen die Frauen die durchlöcherte Kleidung aus den durchschossenen Schränken. „Das war das Kleid, das ich meiner Tochter zum Ende des Ramadan schenken wollte“, sagt eine der Frauen, während sie ein durchlöchertes rosa Rüschenkleid aus dem Schrank holt. Traditionsgemäß schenken Muslime ihren Kindern zum Ende des Ramadans neue Kleidung. Ein Brauch, dem selbst die Ärmsten nachkommen. Seinem Kind an diesem Tag nichts zu schenken gilt als Schande.

Zwei Jugendliche sitzen auf dem Dach des wackligen Verschlages. Er habe immer noch die Hoffnung, daß es eine Verhandlungslösung geben könnte, sagt einer der beiden. Sein Freund winkt ab. Das ganze Gerede sei überflüssig. Militärische Aktionen gegen israelische Soldaten und Siedler befürworten sie beide. „Das sind die wenigen Momente, in denen wir aufatmen“, erklärt der eine. Besonders die spektakulären Aktionen der islamistischen Hamas-Bewegung scheinen bei den Jugendlichen anzukommen. Doch auch dieses Gespräch endet ohne jeden Hoffnungsschimmer. Weder Verhandlungen noch militärische Aktionen bieten eine Lösung aus der Misere, darüber sind sich beide einig. „Das hier ist jedenfalls kein Leben“, fügt der ältere der beiden hinzu, während er nachdenklich am durchschossenen Wassertank vorbei auf das Türkis des Mittelmeeres und die gut gesicherte ägyptische Grenze blickt. Qassem Gidran, Gaza