Diensteifrig, feige und von mäßiger Intelligenz

■ Allen Hauptangeklagten ist eines gemein: Sie haben nichts gelernt seit August 91

Rund anderthalb Jahre schmorten sie in Moskaus Gefängnis „Matroskaja Tischina“ – Matrosenstille. Dann hatte Rußlands Generalstaatsanwalt ein Einsehen und setzte die Putschisten des August 91 bis zum Prozeßbeginn auf freien Fuß. Gelernt haben sie trotz der Zeit zur Kontemplation nichts, Reue zeigte während der Inhaftierung keiner. Nur abgenommen haben sie, und ihre Gesundheit hat gelitten. Gennadi Pawda, der Verteidiger Anatoli Lukjanows, hält allen Ernstes damit die Strafe schon für abgegolten. Jenen, die bis dahin nur ein Leben in Bequemlichkeit geführt hatten, so der Jurist, sei die Ungemütlichkeit russischer Vollzugsanstalten schon Pein genug.

Nach ihrer Haftentlassung nahm die russisch chauvinistische Redaktion der Zeitung Djen die potentiellen Retter des Vaterlandes rührend in ihre Obhut. Unter dem Slogan „Gruß der Sowjetunion“ veröffentlichte sie ein Gruppenfoto mit Chefredakteur. Seither tanzen die Fossilien der kommunistischen Nomenklatura auf jedem Fest ideologischer Grufties: auf dem Kongreß der Russischen Kommunistischen Partei, im Umkreis des Komitees der Nationalen Rettung und dergleichen Gruselkabinetten mehr. Überall schleudert Anatoli Lukjanow, Gorbatschows Studienfreund und bis zuletzt Vorsitzender des sowjetischen Parlamentes, seine Formeln in die von Gicht und Verkalkung gezeichnete Gemeinde: „Die UdSSR war, sie ist und wird sein!“ Knochenscheppernder Beifall.

Lukjanow, das haben die umfangreichen Untersuchungsberichte ergeben, ist bis über die Ohren in die Verschwörung verstrickt. Er hat gelogen, bis sich die Balken bogen. Überhaupt hat die Beweisaufnahme Einblicke in die Persönlichkeitsprofile der Hauptangeklagten geliefert: diensteifrig und kuschend, dabei von ausgesprochen mäßiger Intelligenz, arrogant wie ambitioniert und feige. Subalterne Figuren, wie sie ein totalitäres System eben braucht. Dienernd rutschten sie in Karrieren hinein, ohne jemals an irgendeiner Stelle zu brillieren. Sie vermittelten ihren Oberen einfach das Gefühl, unabkömmlich zu sein.

Anatoli Lukjanow machte am meisten von sich Reden. Als Poet faßte er die Ungerechtigkeit seines Schicksals in Verse. Sein erstes Buch sah das Licht der Welt, als er schon im Dunkeln saß. Soeben erschien sein zweites Werk, diesmal nicht in Dythyramben, dafür ein haarsträubender Ideologie-Almanach in pfurztrockener Prosa. Wie konnte dieser Mann es an der Seite Michail Gorbatschows soweit bringen? Überhaupt wird eine Frage die interessanteste sein, die dieser Prozeß klären kann: die Blindheit Gorbatschows gegenüber seinen engsten politischen Vertrauten. Die Heuchelei, die er nicht entlarven konnte oder wollte. Der Inzest und die Degeneration der Führungsschicht. Lukjanow entpuppte sich während der Haft als Choleriker, der die Untersuchungsrichter aufs übelste beschimpfte und Tobsuchtsanfälle bekam.

Die Fäden des Putsches liefen im Büro des KGB-Vorsitzenden Wladimir Krjutschkow in der Lubjanka zusammen. Akribisch hatte der weinerliche Held alle Dokumente gesammelt und seinem Sekretär anvertraut. Der hatte nichts eiligeres zu tun, als sie nach dem gescheiterten Komplott gleich weiterzureichen. Krjutschkows gesamtes Leben stand im Dienste des Kampfes gegen den „Opportunismus“. Bis zuletzt rechtfertigte er die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956, den Einmarsch in die ČSSR 1968, den Afghanistankrieg und den Bau der Berliner Mauer. Die UdSSR, bekräftigte er immer wieder, sei von ausländischen Agenten durchsetzt. Für seine „kompromißlose“ Haltung gegenüber den „Opportunisten“ sammelte er eine Batterie von 45 ausländischen Orden, an denen sich die Erdkugel studieren läßt. Er sei immer nur ein Erfüllungsgehilfe gewesen, steht in den Untersuchungsberichten. Im Falle Gorbatschows entwickelte er Selbständigkeit. Er ließ den Generalsekretär und seine Familie überallhin verfolgen. Gorbatschow hielt er schlichtweg für verrückt. Er richtete schließlich das System zugrunde, dem die Schmarotzer der Nomenklatura alles zu verdanken hatten. – „Ich fühle mich vor dem russischen Volk nur deswegen schuldig, weil ich ihr Schicksal hätte ändern können. Aber ich habe darin versagt“, meinte Gennadi Janajew ein Jahr nach seiner Inhaftierung. Janajew war Gorbatschows Vizepräsident und sollte dessen Geschäfte übernehmen. Er bekannte, daß er im Volke mit mindestens siebzig Prozent Zustimmung gerechnet hatte. Den anderen Umstürzlern ging es ähnlich, dem Vorsitzenden der Staatsindustrie Tisjakow wie dem Kolchosenfürsten Starodubzew. Der hatte sich auf der Flucht in den Rüben versteckt.

Allen Hauptangeklagten – zwölf insgesamt, unter ihnen auch der ehemalige Verteidigungsminister Dimitri Jasow – ist eines gemein: Schon 1991 gehörten sie zu den unattraktivsten Vertretern des alten Systems. Das Volk war mit Gorbatschow nicht zufrieden, es haßte ihn geradezu, wenn es ihn nicht mit Gleichgültigkeit strafte. Aber seine Enttäuschung über den Generalsekretär bereitete den Putschisten keinen Nährboden. Worauf sie aber spekuliert hatten. Gorbatschows Glasnost hatte ihnen das Leben zur Hölle gemacht. Das Volk kompensierte die Angst vor der Gewalt wie in der Vergangenheit nicht mehr durch Liebe und Achtung gegenüber ihren Führern. Es gab sie nur noch der Lächerlichkeit preis: „Fernab des Volkes stehen sie“, schrieb Lenin „im Gedächtnis an Alexander Herzen“ über die Dekabristen, jene aufständischen Adligen des 19. Jahrhunderts. Moskaus Putschisten vom August 91 hatten ihren Lenin eben nicht gelesen.