Countdown in L.A.

■ Mediale "self-fullfilling prophecy" vorm Ende des zweiten King-Prozesses

Los Angeles (taz) – Nichts ist schlimmer als ein Countdown mit offenem Ende. Seit 46 Tagen warten CNN und Co. im texanischen Waco darauf, daß die Belagerung des Sektenführers David Koresh und seiner bewaffneten Anhängerschaft endlich ein TV-gerechtes Ende nimmt. Solange vertreten sich die Journalisten in ihrem improvisierten Mediendorf namens „Camp David“ die Beine.

Den nationalen Hunger nach Drama und Desaster stillen derzeit die Medien in Los Angeles. Fast pünktlich zum ersten Jahrestag der riots vom 29. April geht hier der zweite Prozeß gegen vier weiße Polizisten zu Ende, die im März 1991 den schwarzen Autofahrer Rodney King schwer zusammengeschlagen hatten. Der Vorfall wäre vielleicht nie an die Öffentlichkeit, geschweige denn vor Gericht gekommen, hätte nicht ein Anwohner die Polizeiaktion gefilmt. Doch trotz Video entschied ein Geschworenengericht vor einem Jahr auf Freispruch. Die Folgen sind wiederum auf Film gebannt: Drei Tage und Nächte lieferten Kamerateams die Revolte und die folgenden Plünderungen live in die Wohnzimmer.

Ein Jahr später haben diese Bilder Hochkonjunktur. Kein Tag vergeht, an dem nicht die Möglichkeit eines Déjà-vu beschworen wird, sollte es erneut zu einem Freispruch kommen. Da wird die National Guard bei Nahkampfübungen gezeigt, die Feuerwehr bei Evakuierungsmanövern; Eltern diskutieren in den Abendnachrichten, wie sie nach Bekanntwerden des Urteils ihre Kinder möglichst schnell aus der Schule holen, und die typische Handbewegung eines Beamten des Los Angeles Police Department besteht dieser Tage aus dem Nachladen eines Gewehrs. Das zumindest suggerieren die Fernsehbilder.

Kirchenführer, Lokalpolitiker und Aktivisten in dem vor allem von Afroamerikanern und Latinos bewohnten Viertel werfen manchen Zeitungen und TV-Stationen vor, eine neue Revolte herbeizuschreiben oder herbeizufilmen. Inzwischen räumen selbst TV-Journalisten ein, daß ihre Vorberichterstattung den Charakter einer „self-fulfilling prophecy“ hat. Es habe wohl viel zuviel Aufregung darüber gegeben, „was passieren könnte“, erklärte Warren Cereghino, Nachrichtenchef von KTLA-TV in der Los Angeles Times. Andererseits könne er aber nicht ignorieren, wenn vor den Waffengeschäften der Stadt Menschen Schlange stehen.

Bleibt die Frage, ob Schußwaffen in den letzten Wochen auch dann solch reißenden Absatz gefunden hätten, gäbe es kein Fernsehen. Sicher nicht, meinen die Waffenhändler. Einer bedankte sich unlängst bei einem Fernsehreporter für die kostenlose Werbezeit.

Unterdessen nutzen auch Bürgermeister Tom Bradley und Polizeichef Willie Williams das Medium Fernsehen und appellieren an die Bevölkerung, friedlich zu bleiben. Allerdings hat noch keiner die TV-Stationen aufgefordert, nach der Verkündung des Urteils die Ruhe zu bewahren und sich besonders mit den für lokale Nachrichtensendungen typischen Live- Reportagen zurückzuhalten. Vor allem in der Dunkelheit erzeugen Kamerateams mit ihren Scheinwerfern manchmal erst die „action“ und fungieren als Multiplikator für Gerüchte, weil es in der Hektik einer Live-Reportage zu aufwendig ist, Informationen zu überprüfen. Die meisten Nachrichtenchefs in L.A. haben es fürs erste dabei belassen, an das Verantwortungsgefühl und die Berufsehre ihrer Mitarbeiter vor Ort zu appellieren und darauf zu hoffen, daß die ganze Aufregung umsonst war. In diesem Fall schaltet Amerika wieder um nach „Camp David“. Andrea Böhm