Schädelfühlig

■ Erinnerung an den Dichter Erich Arendt, einen Autor der extremen Eigenart

Der 90. Geburtstag ist ein schwieriges Datum für eine Ehrung: Ist der Kandidat noch am Leben, gilt es, die Feier so gut wie möglich von der Gewißheit fernzuhalten, daß dies nicht lange mehr so sein wird. Ist er aber schon tot, bekommt das Datum ein Gewicht, gegen das nur die lebendige Erinnerung ankommt: Erich Arendt ist vor gerade einmal neun Jahren gestorben.

Nicht viele kennen, noch weniger lesen ihn. Die Zeit, da hermetische Dichtung von modischem Interesse war, ist längst vergangen. Geblieben sind ein paar Namen – die bekanntesten, Paul Celan und Ernst Meister, findet man in Lyrikanthologien und Schulbüchern wieder, ihre Verse („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“) geben bisweilen das Stichwort für politische Aktionen ab.

Erich Arendt hat im Windschatten dieser Öffentlichkeit gelebt, in der DDR. Hier wurde er mehr geduldet als geschätzt: seiner undoktrinären Kunstansichten und der auf den verschiedenen Stationen des Exils erworbenen Weltläufigkeit wegen war er der Kulturbürokratie suspekt. Daß er dennoch Arbeits- und Veröffentlichungsmöglichkeiten im Osten fand, hängt mit seiner Vergangenheit zusammen.

Aufgewachsen ist Arendt im preußisch-öden Neuruppin, hat dort mit Erfolg ein Lehrerseminar besucht, ohne jedoch an einer bürgerlichen Karriere wirklich interessiert zu sein. Er schlägt sich als Gehilfe in einer Bank und als Kulissenmaler durch, reist hin und wieder nach Berlin, wo er auch die Sturm-Ausstellung mit Bildern von Chagall und die Nachwehen des Expressionismus erlebt. Mitte der 20er Jahre siedelt Arendt nach Berlin über. In Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm erscheinen erste Gedichte, die sich formal an die expressionistische Lyrik von August Stramm anlehnen.

Natürlich liegt der Verdachtnahe, der Jungzwanziger aus Neuruppin habe den Aufstand in der Dichtung um einige Jahre verschlafen. Aber dann findet er einen eigenen Ton, für den etwa das von der Plastik des ukrainischen Bildhauers inspirierte Gedicht „Die Venus von Archipenko“ steht, ein spielerisches erotisches Gedicht, formal dem Expressionismus verpflichtet, jedoch frei vom Gestus weltumfassender Auflehnung.

Die Anregung von der Sprachkreativität des Expressionismus hat für das Werk Arendts (anders als zum Beispiel bei Johannes R. Becher) zeitlebens Bestand: ihr entspringen solche arendttypischen Neubildungen wie „augt“ und Komposita wie „schädelfühlig“ oder „lichtentschält“. Auch kommen schon in seinen frühen Gedichten solche Wörter wie „Insel“, „Fels“ und „Meer“ in auffälliger Häufung vor, die auf eine archaische Bedeutungsstufe zurückgeführt werden, um sie dem nur eindeutigen Verständnis zu entziehen. Sie werden im Laufe der Jahrzehnte zu Schlüsselwörtern seiner Dichtung.

Das Berlin der zwanziger Jahre war nicht nur die pulsierende Kulturmetropole, sondern auch Hauptaustragungsort politischer Konflikte in Deutschland. Arendt tritt in die KPD ein und wird Mitglied im „Bund proletarisch-sozialistischer Schriftsteller“. Seine politische Parteinahme für die Kommunisten ist alles andere als Koketterie, andererseits unterscheidet ihn doch ein spielerisches Verhältnis zur Wirklichkeit vom strammen Parteisoldaten: wollte er doch mit dem KPD-Beitritt nebenbei auch einer Freundin imponieren.

Als Vaganten hat er sich selbst bezeichnet, einen „lockeren Zeisig“ hat Peter Huchel ihn genannt. Doch für die vor 1933 gefällte politische Entscheidung trägt er die Konsequenzen und beteiligt sich – nach seiner Flucht aus Deutschland über die Schweiz, Italien und Frankreich – auf der republikanischen Seite am Bürgerkrieg in Spanien. Hier entstehen tagespolitische Aufsätze und eine Reihe von Versen, deren propagandistische Absicht kaum verhüllt ist. Nach dem Sieg Francos gelingt es Arendt und seiner Frau Katja, nach Kolumbien auszuwandern. Beide können sich mit der Herstellung und dem Verkauf von Pralinen über Wasser halten. Die Zeit des Exils bringt für den Dichter zugleich die prägende Begegnung mit den Lebensweisen und der Natur des Südens. In der Rückschau verschmelzen in seiner Lyrik Natur und Menschen mit dem Mythos.

Die Arendts kehren erst fünf Jahre nach Kriegsende nach Deutschland zurück. Vor allem persönliche Kontakte in die DDR spielen eine Rolle bei der Entscheidung, nach Ost-Berlin zu kommen. Arendt wird Mitarbeiter bei Peter Huchels Sinn und Form und verdient seinen Unterhalt unter anderem mit Übersetzungen der Lyrik von Raffael Alberti und Pablo Neruda, die er gemeinsam mit seiner Frau Katja anfertigt, sowie mit der Herausgabe von insgesamt fünf Text-Bild-Bänden.

Zugleich sind die folgenden Jahrzehnte, die er in materiell einigermaßen gesicherten Verhältnissen verbringt, seine künstlerisch produktivsten. Bis 1981 erscheinen acht Gedichtbände und zwei Auswahlbände der Lyrik Erich Arendts, zu seinem achtzigsten Geburtstag 1983 gibt der (West- )Berliner Agora-Verlag die Festschrift „Der zerstückte Traum“ heraus, und ein Band aus der Reihe „Text und Kritik“ wird dem Dichter gewidmet.

Der Gedichtband „Tol“ (1956) markiert nach den spätexpressionistischen Anfängen und den alltagsnahen Texten der Spanienzeit den Beginn einer neuen Periode in der Lyrik Arendts. Der Band versammelt die im Exil entstandenen Gedichte, in denen jedoch das Exil als Problem oder Heimweh als Motiv nirgendwo vorkommen. Die poetische Landschaft Arendts liegt fern von Deutschland oder der DDR. So sucht man auch vergebens nach Stellungnahmen etwa zu den neuralgischen Geschichtsdaten 1956 und 1968. Soziale Konflikte werden im Gedicht an die Natur delegiert, so kommt es, daß sich die Metaphorik der Arendtschen Lyrik im Laufe der Jahre verdunkelt. Ein frühes und beeindruckendes Zeugnis davon findet sich im Band „Flug Oden“ von 1959: „Erdenkahl,/ wie es dich anweht! stumm/ aus dem tiefen Alter der Welt: gesichtslos,/ ein Denken, öd,/ von Fels und mondleerer Flut!/ Und vor dem hartbeflügelten Licht,/ undurchdringbare Himmel mauernd,/ die Weltengewoge von Stein: Du/ Zeitloses: starres/ Grauen! wo nie ein Mensch/seine Stunde litt/ noch aufsah einer, hoffend.“ (erste Strophe aus „Ode I“)

Arendt wollte ursprünglich Maler werden. Von je her haben ihn Plastik, Malerei und Graphik inspiriert, in späterer Zeit gehörten bekannte Künstler wie Christoph Meckel, Wieland Förster und Gerhard Altenbourg zu seinen Freunden. Gedichte wie „Goya III“ (nach den „Desastres“), „Rembrandt“ oder „David vor der Leiche Marats“ belegen die enge Verbindung des Dichters zur bildenden Kunst. Schule hat Arendt als „Autor der extremen Eigenart“ (Adolf Endler) nicht gemacht, doch gerade für viele jüngere Autoren war er ein Mentor, der eine poetische Alternative zur Tristesse im Mauerstaat anbot. „Frühlingsaster“ heißt ein Gedicht von 1982, zwei Jahre vor seinem Tod:

Letzte Gründe, dunkel

hinter den Augen

aufgeht dennoch

im Fleisch

Geheimes

innen bewimpert

du willst ich will

(blütenoffen)

es sein

Sie fischen aber

aus dem Fluß

die geopferte

Lieblosigkeit

Tod.

Peter Walther

Soeben erschienen: „Erich Arendt zum 90. Geburtstag“, hrg. von Hendrik Röder. Mit Beiträgen von Heinz Czechowski, Adolf Endler, Elke Erb, Fritz Rudolf Fries, Andreas F. Kelletat, Karl Krolow, Fritz J. Raddatz, Gerhard Wolf u.v.a. Zahlreiche Graphiken. Janus-Press, 39,80 DM