Die wilden Tiere von Ebrach

Filme von und über 1968 : War die „Brave Nude World“ eine „Zweite Heimat“ ?  ■ Von Mariam Niroumand

Aus der Versenkung, wo sie am tiefsten ist, aus Dachböden am Berliner Chamissoplatz und diversen Archiven, tauchte gen Ostern ein Schock alter Filme auf. „Bewegungsfilme“ hießen sie eine zeitlang, treffend in doppeltem Sinn: Mit fliegender Handkamera waren die Filmemacher in Demonstrationszügen der Jahre 67ff. mitgerast, hatten Wasser und Tränengas trotzen, plötzlichen Ausfällen von Polizistenknüppeln und Jubelpersern ausweichen und im Audimax eine günstige Position nahe dem umkämpften Rednerpult erhaschen müssen. Parallel zur Berliner Kinopremiere von „Die zweite Heimat“ kann man nun „Den Polizeistaatsbesuch“, „Von der Revolte zur Revolution“ oder „Unsere Steine 68“ sehen. Die Koinzidenz ist aufschlußreich: Die Patina der Nostalgie, die sich über jene Dokumente gelegt hat, ist bei Reitz – soviel läßt sich wohl nach den ersten beiden Fernsehaustrahlungen sagen – durchaus auch in die Farbsequenzen des Opus eingegangen. Gleichzeitig sieht man in „Die zweite Heimat“, was die „Bewegungsfilme“ nicht gekonnt und nicht gewollt hätten: Das Echo der großen politischen Würfe im Privaten, von dem eine Kommunardin gleich zu Beginn von „Unsere Steine“ unwirsch erklärt, man gedenke, es abzuschaffen. Wie ein Nachholbedarf wirkt das große Interesse, auf das Edgar Reitz' Chronik der 60er entlang der Lehr-und Meisterjahre des Komponisten Hermann Simon stößt, wie Bergungsarbeiten an dem, was noch zu retten ist, bevor es endgültig unter den Trümmern der faz-Generalabrechnung begraben wird. (Mit den Schwierigkeiten einer exakten Abstandsbestimmung hatte ja auch dieses Blatt zu kämpfen, als am vergangenen Sonntag unser Zeitungsgebäude in „Rudi-Dutschke- Haus“ umbenannt wurde: Was genau haben wir mit denen zu tun? Sind wir nicht eher Sprößlinge der 70er?)

Filmgenres

Politfilm, Nouvelle Vague, Porno und Genrekino – das waren die Pole, um die der junge deutsche Film damals kreiste, na gut, aber die größte Anstrengung galt der Vermeidung des „Heimatfilms“, des desavouiertesten Genres der deutschen Filmgeschichte. Deshalb haben sie alle welche gedreht – die „politischen“ Berliner um Bitomski und Farocki, aber auch die „ästhetischen“ Münchner, Wenders, Kristl oder Reitz (Alexander Kluge ist noch immer ein Fall für sich). Heimatfilm heißt jetzt Road Movie, führt in den Süden und ins Desaster – typischstes Beispiel vielleicht Vlado Kristls „Der Brief“: Ein Mann reist mit einem gefundenen Brief hinaus in die Welt, sucht und sucht, bis er ihn endlich abliefern kann; erst dann erfährt er, daß der Brief sein eigenes Todesurteil enthält.

Die da auszogen, um das Fremde zu suchen, kamen oft nur bis Oberbayern; irgendwie war klar, man würde sich der verhaßten Heimat stellen müssen. Aber weder in den „Jagdszenen aus Niederbayern“ von Peter Fleischmann, wo die deutschen Provinzler umstandslos als dumpf-lüsterne Schweine erscheinen, noch in den Uschi-Obermeier-Gangsterfilmen wie „Rote Sonne“ von Rudolf Thome war das Deutschland, daß man meinte, wirklich zu sehen: Eigentlich gab es immer nur die anderen, Fabelwesen aus Comicstrips und Camp wie Barbarella (Jane Fonda im Astro-Amazonenlook mit entblößter Brust), Viva Maria (Brigitte Bardot und Jeanne Moreau als Delacroix'sche Liberte- Ikonen im Kampf für lateinamerikanische Feldarbeiter), Zwerge, intellektuelle, dandyhafte Gangster (Marquard Bohm hatte das sehr drauf), eine Kommunardin genannt La Chinoise (chez Godard), oder einen widerwärtigen deutschen Touristen in Italien (chez Syberberg). Auch das ist bei Edgar Reitz heute anders: Hermann Simon, das war er auch ein bißchen selbst.

Schnitte sind verboten

Mit mehr oder weniger großem Ernst betrieben jene Filme, was später großspurig der „Kampf gegen die Signifikation“, das „stop making sense“ heißen sollte. An der berühmten langen Einstellung konntet Ihr sie erkennen: „Kein Vorgang ist so wichtig, daß man ihn verkürzen oder gegen einen anderen abwerten sollte – Schluß also mit den“ Türklinken -Filmen, die immer nur den engen Gesetzen der Handlungsillustration folgen. Der Mensch war eine Erscheinung unter vielen, ein Gesicht so wichtig wie die Jukebox oder der Rinnstein. Die Hollywood-Dramaturgie des Schuß-Gegenschuß war unter Filmemachern so verpönt wie das Hören von Mendelssohn-Bartholdy oder das Schreiben freundlicher Briefe an die Familie. Gedreht wurde in Autorenkollektiven, gern auch von Amateuren statt einem allmächtigen, autokratischen Künstler-Genie.

Auch die Pornographie durchkreuzte das Diktat der Erzählung, die Sesselschwere des bürgerlichen Individuums: Die immer wiederholte koitale Nahaufnahme, die noch bei Oswalt Kolle so peinlich- frivol vermieden worden war, erschien seltsam fremd und anarchisch, kein Charakter, kein Plot, kein Hauch von Psychologie, eher etwas “wie die Kaubewegungen eines Nashorns oder das Krabbeln einer Fichtenraupenspinne in einem Tierfilm“ (Vadillo). Ein ungeheurer Boom an Schwedenfilmen, Titel wie „Ich bin neugierig“ oder „Wunder der Liebe“ feierten die Sexualisierung der Frau. In „Deep Throat“ trägt die Protagonistin ihre Klitoris im Hals – günstig, günstig! möchte man dem Filmemacher zurufen. Der Spiegel startete eine „Umfrage“ nach der anderen, die das Sexualleben der Studenten als letztlich eben doch nicht so leistungsstark präsentieren sollten, (Titel: „Nur wenig“), Zitat: „Der Freimut, mit dem das Jungvolk über Sex redet, hat die Fabel einer allzu frühen Sexualisierung gezeugt. Doch der Sexreport beweist, daß diese Vorurteile in keiner Relation zur praktischen heterosexuellen Betätigung stehen.“

Aus Österreich kam später ein anderes Kaliber aus der Schule Reich/Marcuse dazu: Otto Mühl und die Wiener Aktivisten setzten dem verspielten Schwedenfilm mit „Penisaktion“, „Amore, Fountain und Satisfaction“, oder „Selbstverstümmelung“ hinterher.

Heimlich still und leise hatte sich in Berlin etwas Erstaunliches gezeigt. Heute vom Berliner Werkbund-Archiv neu ausgegraben, ausleihbar in alle Herren Länder, zeigt sich, daß auch olle Deutschland ein New American Cinema hatte. Es nannte sich vorwitzig German Underground Cinema und begleitete die politischen Aktionen der 60er Jahre mit Bildern im Gestus des work in progress, vielleicht ein Schritt auf dem Weg zur „Zweiten Heimat“: Keine Geschichte mit Anfang und Ende, kein Bernd Rabehl, der einem zwischen den Straßenaufnahmen rasch erklärt, wie man die Lage einzuschätzen hat. Vielmehr werden Blicke erhascht, flüchtig aufgezeichnet, mit leichter Hand kolportiert. Meist ist Sommer.

Helke Sanders „Subjektitude“ beginnt vor einem Schaufenster mit Nußknacker und höflich nickendem Schaf, vor dem einige Passanten herumstehen, die durch ein unsichtbares Band verbunden scheinen. Ihre Gedanken verraten uns zwei angenehme Stimmen aus dem Off: Denkt er: „Komisch, daß sie keine Zöpfe hat“, denkt sie „Achtung“. Ohne viel Federlesens küssen sie sich. Die Kamera schwenkt in unerlaubte Weiten; hier wird der Raum erratisch durchkreuzt, die Autorität des omnipräsenten Zuschauers weicht dem Kreuz und Quer verliebter Blicke, das Durchstreifen der Stadt wird zur erotischen Entgrenzungserfahrung.

„Die wilden Tiere von Ebrach“ ist zunächst mal etwas für die, die dabei waren, als damals – nach der Verhaftung von Reinhard Walter – eine Aktionswoche mit großem Picknick im Freien und anschließender Erstürmung des Landratsamtes zum Behufe der Aktenvernichtung stattfand. In der vergnüglich wabernden Menge sieht man, im Jim-Morrison-stride, den jungen Georg Rauch, Fritz Teufel beim Triumphmarsch aus dem Polizeigefängnis und olle Kunzelmann in alter Frische beim Einschätzen der Lage. Man trank Coke, und Antje Krüger, lange Zeit die einzige Frau in der Kommune 1, warf frohen Muts die Arme in die Luft.

Wenn man diese Filme in Kombination mit den „Bewegungsfilmen“ sieht, fällt einem eiskalt wieder ein, was interessanterweise unter der Patina der Nostalgie schon fast verschwunden ist: Was nämlich wartete auf diese wilden Tiere von Ebrach; das Tränengas, die Polizeiknüppel, die aufgebrachten Passanten, die Langhaarige in Hauseingänge zerrten, um ihnen die Haare abzuschneiden, die stoische Ruhe, mit der der Schah von Persien in der Deutschen Oper saß, während draußen Schüsse fielen, die drei Kugeln auf Rudi Dutschke...

Wenn es Reitz gelingt, die Verbindung herzustellen zwischen diesem Draußen und Drinnen, inklusive dem Schaden, den die Bewegung auch sich selbst zugefügt hat, könnte ihm vielleicht nicht nur die in der Zeit zu Recht gelobte „große Fersehserie“ gelungen sein, sondern auch ein kleiner Beitrag zur politischen Kultur.