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„Genaue Zahlen gibt es nicht“

■ In Tuzla und Zenica werden die Berichte vergewaltigter Frauen gesammelt

„In der Tat ist das gesamte Ausmaß der Verbrechen nicht abzusehen“, antwortet Dr. N.A. (Name der Red. bekannt) von der „Kommission zur Sammlung für Beweise für Kriegsverbrechen“, auf die Frage nach der genauen Zahl der Vergewaltigungsopfer. „Erstens sind viele der Vergewaltigten in den Lagern umgekommen. Zweitens sind von jenen Frauen, denen die Flucht aus den betroffenen Gebieten gelang, viele, ungefähr 400.000, über Kroatien ins Ausland geflüchtet. Außerdem sind viele der betroffenen Frauen vor Scham nicht bereit, darüber zu reden. Viertens sind die meisten, die eine Vergewaltigung zugeben und abtreiben lassen, entweder im Zuge des Gefangenenaustausches freigekommen oder aus den Lagern freigekauft worden.“

Von 600 im Krankenhaus von Tuzla untersuchten schwangeren Flüchtlingsfrauen, die ihr Kind austragen wollten, hätten 390 Verletzungen gehabt, die auf Vergewaltigungen hindeuten. 128 der 238 Flüchtlingsfrauen, die abtreiben lassen wollten, gaben offen an, von serbischen Soldaten vergewaltigt worden zu sein, 12 weitere erklärten, die Vergewaltigung sei in der bosnisch kontrollierten Zone geschehen. Bei den restlichen 98 Frauen seien die Indizien zwar zwingend, die Frauen leugneten jedoch Vergewaltigungen ab.

Von den in Zenica behandelten Frauen gaben bisher 86 an, monatelang in Lagern vergewaltigt und dabei schwanger geworden zu sein. Sie erstellten wie in Tuzla jeweils ein Protokoll, das von drei Ärzten oder Ärztinnen bestätigt ist, die aus den drei in Bosnien lebenden Nationalitäten stammen (Muslimanen, Kroaten, Serben). „Hinter dem Schicksal jeder dieser Frauen verbergen sich die Schicksale von Dutzenden, die noch immer in den Vergewaltigungslagern leben müssen“, gibt Dr. N.A. zu bedenken. Eines der Protokolle aus Tuzla kann so zusammengefaßt werden: N.N., 25 Jahre alt, war sechs Monate lang in einem Vergewaltigungslager in Doboi (einer Stadt in Zentralbosnien) festgehalten worden. Sie war Haushaltsgehilfin in einer serbischen Familie. Als sie Ende Juli 1992 zum Einkaufen ging, wurde sie von drei Soldaten der serbischen Streitkräfte ausgeraubt und in das Stadion der Stadt gebracht. Zusammen mit fünfzig Frauen wurde sie in einen Raum gesperrt. Am 1. August führten die Soldaten sie dann mit zwei anderen Mädchen in einen gesonderten Raum und vergewaltigten sie zum ersten Mal. In den folgenden sechs Monaten wurde sie täglich in diesen Raum geführt. Oftmals wurde sie beschimpft oder gefoltert, Zigaretten wurden auf ihrer Haut ausgedrückt. Zweimal wollte ihr Bruder im letzten November jeweils 10.000 Mark bezahlen, um sie endlich freizubekommen. Doch erst im Februar wurde sie gegen die Frau eines Tschetnikoffiziers ausgetauscht. Als sie frei war, mußten die anderen Frauen bleiben. „Sie sind wahrscheinlich immer noch dort. In den Räumen unterhalb des Stadions von Doboi.“

Auch in den Krankenhäusern von Zenica, Visoko, Gradacac oder Travnik sind Statistiken und Zeugenaussagen dieser Art erstellt worden. Bisher jedoch konnte noch keine umfassende Dokumentation der unzweifelhaften und von den Frauen selbst bestätigten Fälle in Zentralbosnien erstellt werden. Dies soll jedoch bald geschehen. Die bosnische Regierung in Sarajevo will bereits 10.000 eindeutig geklärte Fälle von Vergewaltigungen dokumentiert haben. „Es ist bedrückend“, so sagt Dr. Rifat Karić, der in Tuzla die „Kommission zur Sammlung von Beweisen für Kriegsverbrechen“ leitet, „daß die Erlebnisse der Opfer immer wieder angezweifelt werden.“

„Wir haben über 16.000 Fragebögen, die an Flüchtlinge ausgeteilt wurden, bisher ausgewertet“, erklärt Dr. Ragib Hadzic, der Leiter des „Zentrums zur Erforschung der Kriegsverbrechen“ in Zenica. „Nach den Ergebnissen unserer Unterlagen können wir hochrechnen, wie viele Menschen bisher durch Kriegsverbrechen, nicht durch die Kampfhandlungen, wohlgemerkt, ermordet worden sind. Wir kommen auf über 150.000.“ Hadzic ruft die internationalen Institutionen dazu auf, Nachforschungen auf der anderen Seite anzustellen. Doch allein der Umstand, daß die serbische Seite die Nachforschungen behindere, sei ein Hinweis für die weitere Existenz der Lager. „Noch immer gibt es Lager, noch immer werden Menschen vergewaltigt und ermordet.“

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