„Gott sei Dank, daß wir Nelson haben“

Das schwarze Südafrika trauerte gestern um den ermor- deten ANC-Führer Chris Hani. Im Johannesburger Township Soweto rief Nelson Mandela die Jugend zur Disziplin auf.

Es war ein Tag der Zurückhaltung, dieser Mittwoch in Soweto — aber mit einer lautstarken Botschaft an die Regierenden in Pretoria. Zum Gedenken an den ermordeten KP-Chef und Führer des African National Congress (ANC), Chris Hani, standen gestern alle Räder still, die Bewohner der Schwarzensiedlung vor Südafrikas Metropole Johannesburg versammelten sich zur Kundgebung. Viele trugen die Botschaft auf ihren T-Shirts, als sie zum Jabulani-Stadion zogen, um ANC-Präsident Nelson Mandela zu hören. „Vorwärts zu einer Interimsregierung und einer verfassungsgebenden Versammlung“, hieß es bei einigen. „ANC für eine Nation, für Frieden und Demokratie“ etwas eindringlicher bei anderen. Überragend aber die eine Aussage an diesem Tag der Trauer und der Besinnung: Wir lassen uns nicht provozieren, wir lassen uns jetzt, kurz vor dem Ziel, nicht ablenken. Wir lassen uns nicht ins Chaos stürzen.

Am Abend zuvor hatte Mandela sein Volk ermahnt, Ruhe zu bewahren, als er zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen auf sämtlichen Fernsehkanälen zu sehen und zu hören war. „Unser Land balanciert am Abgrund“, sagte er. „Es wird von uns abhängen, ob wir unseren Schmerz und unsere Wut so einsetzen, daß wir vorankommen.“ Und er rief die Jugend auf, sich diszipliniert zu verhalten, so wie es Chris Hani, „der Soldat für den Frieden“, immer getan hatte.

Sonnenaufgang in Soweto: Auf der Highway, sonst eine Rennbahn für die überfüllten Minibusse in die Stadt, ist nur ein einzelner Jogger unterwegs. Der Aufruf zum Generalstreik wird von der überwältigenden Mehrheit befolgt, diesmal ohne daß die jungen ANC-Comrades Blockaden errichten. Polizei ist nirgends zu sehen. In einem kleinen Haus sitzt ein alter Mann in roten Pantoffeln und erzählt von der Zeit vor 25 Jahren, als er mit Chris Hani im damaligen Rhodesien kämpfte. Moscheju, so lautete der Kriegername Graham Morodis drei Jahrzehnte lang, ist erst seit 1991 wieder im Land. In der Rückbetrachtung Moschejus bekommt Chris Hani die Züge eines Che Guevara. „Chris war unser Kommissar, er machte uns standhaft, als Hunger und Durst uns plagten, als wir unter Feuer standen. Er erzählte uns von den heldenhaften vietnamesischen Genossen. Er war einer von uns.“

Ein anderer Kampfgefährte erzählt, wie Chris Hani Jahre später ins Königreich Lesotho geschickt werden sollte, um dort Strukturen für den Untergrundkampf aufzubauen. Die Enklave war nur über Südafrika zu erreichen, und es wurde beschlossen, daß Hani am wenigstens auffallen würde, wenn er nach Lesotho radeln würde. Nach Instruktionen der ANC- Führung stand er bereit – nur, er konnte nicht radfahren. Der Einsatz mußte verschoben werden, damit er radeln lernen konnte.

Soweto, am späten Vormittag: Im Stadtteil Jabulani — die Herbstsonne steht hoch am hellblauen Himmel — strömen die Menschen ins Stadion. Eine Rockgruppe begleitet die Menge bei Liedern zwischen Trauer und Kampf. Die alten ANC-Führer Walter Sisulu und Nelson Mandela sind gekommen, sie singen mit. Es ist eine sehr afrikanische Art zu trauern, voller Musik und gestenreichen Gesprächen.

Außerhalb der Sportarena steht Adah, eine Lehrerin aus Soweto, die ihren vollen Namen nicht nennen will. Es ist so voll, daß sie mit vielen Tausenden anderen nicht reinkommt. „Unsere Herzen sind drin“, sagt sie. „Wir teilen ihre Trauer.“ Sie ist schlicht gekleidet, schwarz mit weißen Sportschuhen und mit einem gelb-grün-schwarzen Abzeichen des ANC. „Gott sei's gedankt, daß wir noch Nelson haben“, sagt sie. „Wir sind glücklich, daß wir ihn haben, er ist eine Decke, die uns alle schützt. Wenn es ein Moses gibt, der uns aus diesem Ägypten führen kann, ist es Mandela.“

Adah spricht von ihren Schülern. „Chris hatte wenigstens eine Ausbildung. Er ging zur Schule, zur Universität. Was soll noch aus unseren Kindern werden?“ Um Adah herum marschieren die Bewohner der Männerheime, bewaffnet mit Äxten und Knüppeln. Sie werden von der Menge lautstark begrüßt – es sind ihre Beschützer in den gewalttätigen Auseinandersetzungen der Townships. Einige von ihnen haben Palmenzweige mitgebracht, neben den Waffen ein deutliches Zeichen dafür, daß auch sie die Emotionen dieses Tages spüren. „Chris sah, daß es Zeit war für ein friedliches Südafrika“, sagt Adah. „Deshalb tun unsere Herzen heute so weh.“

Im Johannesburger Stadtzentrum haben sich Schwarze und Weiße an der Methodisten-Kirche versammelt. Es sind Pförtner, die in der Stadt wohnen, und Straßenkinder, einige Sekretärinnen und auch Geschäftsleute. Sie haben Zweige von den Bäumen heruntergerissen, sie sind still und nachdenklich. „Wie lange noch, o Herr“, fragt ein Geistlicher, „müssen die Besten Afrikas auf dem Altar der Apartheid geopfert werden?“ Stephen Laufer, Johannesburg