: „Ich würde lieber arbeiten gehen“
Dritter Warnstreik im Brandenburger Stahlwerk Hennigsdorf / Angst vor einem Rückzug der Abnehmer / Einem Streik sehen die Beschäftigten nicht mit Begeisterung entgegen ■ Aus Hennigsdorf Dorothee Winden
Kurz nach 12 ist Betriebsrat Hans Schwarz noch damit beschäftigt, mit einer Sekretärin zu flirten. „Da greift der sich 'ne Mieze und knutscht sie in den Boden“, kommentiert ein Kollege und drängt auf Aufbruch. Hektik bricht aus, die Transparente werden zusammengerafft. Punkt 13 Uhr geht dann die Schranke am Tor der Hennigsdorfer Stahl und Elektro GmbH (HES) runter. Ein Arbeiter stellt eine Lok auf der Kreuzung des Betriebsgeländes ab, bis zum Ende des Warnstreiks um 18 Uhr ist hier kein Durchkommen mehr. Mit Hilfe der Sekretärin befestigt Betriebsrat Schwarz das gelbe Transparent mit der Aufschrift „Warnstreik“ an der Schranke. Im Werk haben die Kollegen die Arbeit niedergelegt.
Während Betriebsrat Schwarz noch mit den Rückkopplungen des Lautsprechers kämpft, sammelt sich am Tor das kleine Häuflein derjenigen, die mit dem Bus zur Kundgebung der IG Metall nach Berlin fahren. Nur rund 200 der insgesamt 872 Mitarbeiter haben gerade Schicht. Die meisten Streikenden bleiben zur Sicherung des Tores zurück. Die Stimmung ist alles andere als kämpferisch.
„Ich würde lieber arbeiten“, sagt Heinz Tilgner. „Aber der Streik muß sein. Wir brauchen unser Geld.“ 1.500 Mark netto bringt der 49jährige nach Hause. Davon gehen schon 500 Mark für die Miete drauf. Wenn seine Frau nicht auch noch arbeiten ginge, würde die Familie mit den beiden Söhnen im Alter von 20 und 22 Jahren kaum über die Runden kommen. Beide machen eine Umschulung und müssen noch mit durchgefüttert werden. Selbst wenn die Einhaltung des Tarifvertrags noch erkämpft werden kann und die Löhne der Stahlarbeiter von 70 auf 80 Prozent des Tariflohns West angehoben werden, kommen unter dem Strich nur 54 Prozent des Westlohns raus, weil im Osten keine übertariflichen Zuschläge gezahlt werden. Tilgner, der in dem kleinen Teil des Betriebs arbeitet, der Blankstahl weiterverarbeitet, hat Angst, daß wegen des Streiks die Kunden abspringen.
Er streikt trotzdem. „Im Betrieb müssen alle an einem Strang ziehen.“ Auch ein Kollege findet den Streik „eigentlich scheiße“. „Es wäre für die besser und auch für uns, wenn es zu einer Einigung käme“, meint der Familienvater, der seit 17 Jahren im Werk arbeitet. Aber die überwiegende Meinung ist: „Wir haben gar keine andere Wahl als zu streiken.“
„Das ist heute der letzte Warnstreik“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Peter Schulz. Der erste fand am 1. April statt, nur einen Tag nachdem der Arbeitgeberverband Stahl wie die Metall-Arbeitgeber den Stufentarifvertrag aufgekündigt hatten. Zwar ist der Riva-Konzern nicht Mitglied im Arbeitgeberverband, durch einen Anerkennungstarifvertrag ist man aber an die von der IG Metall ausgehandelten Tarife gebunden. „Unser Betrieb floriert. Wir produzieren an der Kapazitätsgrenze und setzen alles ab“, schildert der Betriebsratsvorsitzende Peter Schulz die wirtschaftliche Lage.
Seit der italienische Familienkonzern Riva das Stahlwerk im Mai 1992 von der Treuhand übernommen hat, schreibt der Betrieb schwarze Zahlen. Produziert wird hauptsächlich Betonstahl für die Bauindustrie. „Wir stellen mit 10 Prozent der Belegschaft die Hälfte der ehemaligen Produktion her. Wenn das kein Produktionszuwachs ist ...“, sagt Betriebsrat Schulz.
Daß es für die Geschäftsführung keine wirtschaftliche Notwendigkeit gebe, die Tariferhöhung zu verweigern, habe diese letzte Woche sogar vor der Belegschaft eingeräumt, sagt Hans Schwarz, der auch Mitglied der Tarifkommission Stahl/Ost ist. Die Geschäftsführung habe betont, ihr ginge es lediglich darum, gegenüber der Konkurrenz nicht schlechter gestellt zu sein. „Welche Konkurrenz?“ fragt sich Betriebsrat Schulz, wo der Betrieb doch der einzige in Ostdeutschland ist, der Betonstahl herstellt. Gegenüber den zwei westdeutschen Konkurrenten wäre der Ostbetrieb, was die Löhne betrifft, auch nach der Lohnerhöhung noch im Vorteil.
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