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"Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv"

■ Mit Petitionen, Blockaden und Streiks demonstrierten 150 000 Hamburger gegen die atomare Aufrüstung - vor 35 Jahren

— vor 35 Jahren

Im Frühjahr 1958, fünfzehn Jahre nach den schweren Luftangriffen: Ungeachtet aller schwierigen Lebensbedingungen machte sich auch in Hamburg das Wirtschaftswunder bemerkbar: wochenends knatterte man mit Goggo ins Grüne. Bürgermeister Max Brauer verkündete den städtischen Angestellten die Einführung der 45-Stunden-Woche, und in der „Kurbel“ am Jungfernstieg lief Billy Wilders Film „Zeugin der Anklage“.

Fast hätte man vergessen können, daß in Wirklichkeit noch immer Krieg herrschte — kalter Krieg. Schon seit einem Jahr gab es wieder eine deutsche Armee, und in Bonn trieben Kanzler Adenauer und Verteidigungsminister Strauß zielstrebig die Aufrüstung voran. Als aber Ende März nach heftigster Parlamentsdebatten CDU/CSU und Deutsche Partei beschlossen, die Bundeswehr Nato-gemäß mit taktischen Atomwaffen auszustatten, war es mit der Ruhe vorbei.

Im VW-Werk standen die Räder still, in Frankfurt wurde demonstriert, und auf einer Sondersitzung in Hamburg beriet der DGB-Bundesvorstand Maßnahmen bis hin zum Generalstreik. 5000 Arbeiter im Hafen blockierten die Verladeschuppen, Studenten veranstalteten einen Schweigemarsch vom Berliner Tor zur Universität, 936 Hamburger Ärzte überreichten dem Bürgermeister eine Entschließung und wiesen darauf hin, daß im Falle des Atomkrieges keine medizinische Hilfe möglich sei.

Mochten die CDU und ihr Kanzler auch versuchen, die Gemüter zu beschwichtigen — was Krieg bedeutete, war der Bevölkerung noch allzu bewußt. Das Emnid-Institut ermittelte, daß 83 % aller Wähler die Atombewaffnung entschieden ablehnten. Der von Gewerkschaften und SPD organisierte Protest fand breiten Rückhalt. Helmut Schmidt, Herbert Wehner, Gustav Heinemann sprachen in Hamburg gegen den Bundestagsbeschluß. Max Brauer kündigte für die Hansestadt sogar eine Volksbefragung an, was Adenauer als „Untergrabung der Demokratie“ zurückwies.

Während auch international über den Stop von Atomwaffentests gestritten, gegen eine neue Runde im Rüstungswettlauf demonstriert wurde, während Delegationen nach Hiroshima reisten und in England der erste Ostermarsch stattfand, bereitete der Hamburger Aktionsausschuß „Kampf gegen den Atomtod“ eine Großkundgebung vor. Als Verteidigungsminister Strauß am 16. April in Paris offiziell dem Nato-Aufrüstungsbeschluß zustimmte, gaben auch die Hanseaten ihre vornehme Zurückhaltung auf: 150 000 Menschen versammelten sich am Folgetag auf dem Rathausmarkt und manifestierten ihren Widerstand. „Hamburger, denkt an 1943“ stand auf den Transparenten, „Wir wollen genau so alt werden wie Konrad“ oder „Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv“. Nachdem sie die Teilnehmer erst zur Kundgebung gebracht hatten, unterbrachen die Verkehrsbetriebe ihren Dienst; die Polizei mußte 300 Beamte zusätzlich einsetzen!

Die Ansprachen von Max Brauer und dem Schriftsteller Hans Henny Jahnn gegen den Atomwahnsinn, mit Lautsprechern in der ganzen Innenstadt übertragen, fanden breiteste Zustimmung. Da konnte die CDU ein „Aufputschen der Volksmeinung“ unterstellen und die SPD zur „staatsgefährdenden Partei“ stempeln, die Hochrüstung der Bundeswehr war so kurz nach dem Krieg noch nicht mehrheitsfähig. Kay Dohnke

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