: In Kanada noch mal als Schuster anfangen
■ Fernweh, Arbeitslosigkeit, Rechtsruck in Deutschland sind häufig genannte Motive fürs Auswandern / Beratungsstelle in Mitte erfreut sich reger Nachfrage
Die Auswanderungsberatungsstelle des diakonischen Vereins für internationale Jugendarbeit kann über fehlende Klienten nicht klagen: fünfzig bis sechzig Männner und Frauen sprechen in der Einrichtung, die seit Jahresbeginn im Bezirk Mitte angesiedelt ist, pro Woche vor. Die meisten sind Ostberliner oder kommen aus dem Umland. Vom Abiturienten bis zum Rentner, vom Arbeitslosen bis zum vollbeschäftigten Akademiker, alle Altersgruppen und Berufsgruppen sind darunter. Nicht wenige haben Hochglanzfotos von Urlaubsprospekten im Kopf und kaum eine Vorstellung von den Hürden, die ein Einwanderungsland heutzutage stellt, ist die Erfahrung von Beraterin Vivien Hufenbach.
Die Sozialarbeiterin über ihre Klientel: „Besonders fällt mir auf, daß sich viele Ostberliner in einer Art depressiven Zustand befinden: sie sind arbeitslos oder ohne Aussicht auf eine berufliche Chance. Von ihnen höre ich oft den Satz: ,Woanders wird niemand wissen, ob ich aus Ost- oder Westdeutschland komme.‘“ Als weiteres Motiv für den Auswanderungsgedanken erfährt Vivien Hufenbach – vor allem von jungen Leuten – den rapiden Rechtsruck in Deutschland. „Es haben auch jüdische Leute angerufen, die sich von der Situation hier bedroht fühlen.“
Auch der 43jährige Orthopädie- Schuhmacher aus Erkner, Karlheinz Dohnke, hat von dem kostenlosen Beratungsangebot Gebrauch gemacht. Dohnke möchte mit Frau und Tochter für immer nach Kanada. Ein Freund, der vor Jahren von Leipzig nach Kanada ausreiste, hat ihn vor nicht allzu langer Zeit auf die Idee gebracht. Halten tut ihn hier nichts mehr: „Die Kosten als Selbständiger wachsen mir über den Kopf, und immer wieder wird noch bei den Kleinen gespart. Daß die jetzt sogar beim Kindergeld oder der Arbeitslosenunterstützung kürzen wollen, ist doch eine echte Schweinerei. Und der ganze Rechtsradikalismus, muß ich sagen, tut mir sehr weh. Das finde ich absolut nicht in Ordnung, was da mit den Ausländern getrieben wird.“ Karlheinz Dohnke weiß, daß gerade ein klassisches Einwanderungsland wie Kanada eine sehr strikte Immigrantenpolitik verfolgt. Dennoch rechnet er sich Chancen für einen Neubeginn aus. Sein Haus in Erkner will er verkaufen und mit dem Erlös in Kanada eine neue Schuhwerkstatt eröffnen, denn: „Kranke Füße gibt es wohl überall.“
Eine 52jährige Ostberlinerin will mit ihrem zwei Jahre jüngeren Mann nach Kenia. Die beiden haben bisher niemandem von ihren Plänen erzählt und möchten deshalb anonym bleiben. Ein Urlaub in Ostafrika hatte den Ausschlag gegeben. Das Ehepaar besorgte sich Immigrationsunterlagen und fand heraus, daß die Altersgrenze beiden noch die Übersiedlung erlaubt – ganz im Gegensatz zu den meisten Einwanderungsstaaten. „In Deutschland sind wir beide doch in unserem Alter längst abgeschrieben“, sagt die Frau wütend. Sie selbst ist arbeitslos, ihr Mann arbeitet als Ingenieur im Elektronikbereich. Sein Beruf sei in Kenia gefragt. Die Frau fügt hinzu: „In unserem Urlaub haben wir gesehen, daß dort viel zu tun ist. Aber rosarot betrachten wir die Sache dennoch nicht. Wir haben uns jetzt über die Zentrale Arbeitsvermittlung in Frankfurt beworben. Wenn wir von dort eine Absage erhalten, hat sich der Traum schon erledigt.“
Dorothea Pohl hingegen ist bei ihrem Versuch, nach Neuseeland auszuwandern, gescheitert. Für sie war die Entlassung beim Deutschen Fernsehfunk und die nicht so gewollte Wiedervereinigung Auslöser dafür, Deutschland den Rücken zu kehren. „In Berlin wollte ich eigentlich die Hälfte von mir zurücklassen“, sagt sie im besten Berlinerisch und meint damit die Charakterzüge, die sie an sich nicht mag. Zurücklassen wollte sie auch eine kaputte Liebesbeziehung. Trotzdem zog es sie bereits nach sieben Monaten zurück in die Stadt an der Spree. Halten konnte sie weder die traumhafte Schönheit der Kiwi-Insel, die von Bergen wie in den Alpen bis zu Sandstränden und Meer alles zu bieten hat, noch ein Arbeitsplatz als Kindermädchen. „Mir fehlte die Liebe. Und wenn du einsam bist, hast du einfach zuviel Zeit, dich mit dir selbst zu beschäftigen. Davon hatte ich dann auch die Nase voll.“ Chris Weiland
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