Berlinmüde? Kein Grund zur Panik!

■ Viele klagen über das Leben in der Stadt an der Spree, aber nur wenige gehen / Berlin wächst, und das Bevölkerungsprofil ändert sich / Ein demographischer Bericht über 1992

Ein Knöllchen klemmt unterm Scheibenwischer, die S-Bahn hat wie immer Verspätung, die Mieterhöhung liegt auf dem Tisch, der Frühling will und will nicht kommen, der Freund geht fremd, die ABM-Stelle läuft aus. Der Berlin- Blues ist angesagt, nicht zum ersten Mal, auch die Drohung: „Jetzt reicht es – ich gehe“ gehört zum Ritual. Und eifrig wird in Wohngemeinschaften und Szenekneipen die eigene Berlinmüdigkeit objektiviert; die Stadt ist zu voll, der Charme ist dahin, der Biedersinn triumphiert, die Politik ist langweilig, die Menschen sind muffig und die Spekulanten eifrig. Ach, wie war es früher doch so schön, Motzki sitzt mit am Tisch, die Maueröffnung ist schuld! Aber vom Reden zum Gehen ist ein langer Weg und ungeklärt vor allem eines: wohin eigentlich? Und so kommt es, daß zwar jeder jemanden kennt, der wegziehen möchte, aber fast niemand es tut.

Der Beweis: Berlin wächst, wenn auch langsam. Ende 1992 waren 3.456.891 Personen mit erstem Wohnsitz in der vereinigten Stadt gemeldet, zwei Jahre zuvor in Ost- und Westberlin zusammen nur 25.000 weniger. So explosionsartig, wie die Berlinkranken behaupten, ist die Stadt nicht gewachsen, Geburten und Todesfälle hielten sich fast die Waage. Interessanter für potentielle Berlinflüchtlinge ist daher die Frage, wie viele Menschen die Stadt verlassen und wie viele im gleichen Zeitraum gekommen sind. Und hier zeigt sich eindeutig: Es fahren mehr Umzugswagen in die Stadt hinein als aus ihr hinaus. Alleine im zweiten Quartal 1992 – eine neuere Statistik gibt es noch nicht – wählten 29.402 Menschen den Weg nach Berlin, meldeten zumindest ihren Hauptwohnsitz hier an. Im gleichen Zeitraum verließen aber nur 19.321 Personen die Stadt, es gibt also, wie es im knochentrockenenen Soziologendeutsch heißt, für die Monate April bis Juni 1992 einen „positiven Zuwanderungssaldo von über 10.000 Gemeldeten“.

Obwohl an diesen Zahlen nicht zu rütteln ist, beweist ein genauerer Blick in die Umzugsstatistik, daß in bestimmten Kreisen der Berlin-Blues tatsächlich zu Folgen führte. Denn der „positive Zuwanderungssaldo“ geht vor allem auf das Konto von Ausländern. Über die Hälfte der 29.000 Zuzügler kamen aus Ex-Jugoslawien, Polen, der GUS, Türkei oder Rumänien. Aus den alten oder neuen Bundesländern kamen im 2. Quartal 1992 nur 12.487 Deutsche, überwiegend 20- bis 25jährige, zumeist Männer und vor allem aus Nordrhein- Westfalen und Brandenburg. Weggezogen aber sind fast genauso viele, nämlich 11.673, ebenfalls zumeist Männer, aus den östlichen Randbezirken Berlins kommend und zwischen 25 und 30 Jahre alt. Sie gingen überwiegend nach Westdeutschland, vor allem nach Niedersachsen. In die sonnige Toscana, nach Australien oder ins sonstige Ausland zog es nur 615 Mutige. Setzt sich diese Tendenz fort, nämlich einen „Zuzugsüberschuß“ von nur 814 Personen mit deutschem Paß bei einer gleichzeitigen überproportionalen Einwanderung aus dem Ausland, so wird es, sagt ein Mitarbeiter des Statistischen Landesamtes, zu einer „gewaltigen Umschichtung des Bevölkerungsprofils kommen“. Jeder vierte Berliner wird im Jahre 2.000 nicht in Deutschland geboren sein. Der Wohnungsmarkt wird in bestimmten Bezirken eng.

Auch dies ist zu sehen in der besagten Statistik. Die Neuzuwanderer aus dem Ausland drängte es vor allem nach Neukölln, Wedding, Charlottenburg, Spandau und nur selten in die östlichen Bezirke. Nur 449 der knapp 12.000 Ausländer nahmen ihren Wohnsitz am Prenzlauer Berg, während es über 2.000 Deutsche aus Wessi- Land oder Westberlin dorthin trieb. Die größten Chancen, eine Wohnung zu finden, liegen dort, wo es mehr Abgänge als Zugänge gab. „Fortzugsüberschuß“ heißt der korrekte Terminus. Und statistisch relevant ist diese Entvölkerung nur in einem Bezirk, nämlich Kreuzberg. Zwar zog es über 4.000 Menschen in diese Multi-Kulti- Hochburg, aber 4.200 hinaus – vorwiegend deutsche Staatsangehörige.

Statistisch völlig unrelevant sind die am Kneipentisch oft beredeten kleinen Fluchten von Berlin ins Umland. Nur 1.421 wagten den Sprung in den Kreis Bernau oder Königs Wusterhausen, davon kam aber nicht einmal ein Drittel aus Westberlin. Das Fazit aus all diesem Zahlenwust? Dem nächsten Kneipenbesuch steht nichts entgegen. Barbara, Ute, Dieter und Heinz sind noch da. Viel Gerede, wenig gewesen. Anita Kugler