Was unbrauchbar wurde

■ Dokumente und Essays demontieren den Mythos Prenzlauer Berg

Was war die versteckte Künstlerkolonie im Prenzlauer Berg – subversiv, ferngesteuert, unterwandert, verraten? Sascha Anderson – wer ist das, und was tat Rainer Schedlinski? Nach der Debatte im Feuilleton gibt es jetzt die Aufsatzsammlung zum Thema. In „MachtSpiele“ schreiben Dichter, Literaturwissenschaftler und Kritiker der Szene über den Verrat am Versuch, in einer Randzone der DDR einen Elfenbeinturm zu errichten: Essays, Berichte, Erzählungen – ein paar Teile mehr für das Geschichtspuzzlespiel.

„MachtSpiele“ ist Bestandsaufnahme mit perfekter Arbeitsteilung: Die Szene-Literaten selbst übernehmen den Bericht über die achtziger Jahre im Prenzlauer Berg. Sie erzählen von den Möglichkeiten, IM zu werden, sinnieren über das Verhältnis von Literatur und Moral und beiläufig auch über die Hackordnung in der Szene: Mythendemontage. Von Sascha Anderson und Rainer Schedlinski gibt es allerdings keine Neuigkeiten. Anderson hat lediglich einen Brief geschrieben: „man kann das buch für wichtig halten, ohne es gut zu finden (ich)“, teilt er mit. Die Auslöser der Affäre halten sich bedeckt.

Noch jemand anderes schwebt schattenhaft im Hintergrund: Heiner Müller. Sein Name fällt nicht ein einziges Mal, obwohl er durchaus zu den Förderern des Prenzlauer Bergs zu rechnen ist. Spekulative Stille: Die Fälle Anderson und Schedlinski liegen einigermaßen offen, auch wenn Anderson seinen Verrat per Brief in den Machtbereich schwer lösbarer Rätsel abschiebt. Bei Müller liegen die Dinge verquerer: Der Ankläger Dieter Schulze ist zurückgezuckt und hat sich entschuldigt. Das Ganze aber bleibt diffus: Warten auf Füllung weißer Flecken.

„Auch die subversive Literatur der DDR war eine Literatur der Staatssicherheit“, schrieb Frank Schirrmacher im November 1991 in der FAZ. Sein Beitrag eröffnete eine sechsmonatige Debatte im Feuilleton: Mit ihren Produzenten kam auch die Literatur in Verruf. In „MachtSpiele“ kümmern sich Literaturwissenschaftler nun akribisch um die nachgelassenen Texte. Die Debatte im Feuilleton aber bildet den Hintergrund des Buches, und eine Auswahl der Beiträge ist in „MachtSpiele“ gesondert dokumentiert. Die Publizistin Gabriele Dietze leistet in ihrem Essay Vorarbeit und unternimmt den Versuch, den verwirrten Streit zu analysieren: Neokonservative Kritiker treten in Allianz mit den (meist links orientierten) politischen Oppositionellen der DDR auf. Dietze stellt diesen beiden Gruppen die bundesrepublikanischen „Altlinken“ gegenüber. Zur Erklärung für den seltsamen Frontverlauf bietet die Autorin den mangelhaft verarbeiteten Nationalsozialismus an. Gewagt begründet sie ihre These mit dem Vokabular der Diskutanten: etwa Jürgen Fuchs' Begriff „Auschwitz der Seelen“.

Der Prenzlauer Berg selbst habe gespalten auf die Enttarnungen reagiert, resümiert Gabriele Dietze. Während die einen sich scharf distanzieren, scheinen die anderen unschlüssig: Das ist eine Trennung, die sich auch im vorliegenden Buch zeigt. Die Urteile schwanken, fester stehen sie nur bei denjenigen, die den Prenzlauer Berg schon vor der Doppel-Enttarnung kritisierten, zum Beispiel Uwe Kolbe, Leonhard Lorek oder Jan Faktor. Die Verteidiger der Szene hingegen sind ratlos.

Das einzig Unumstößliche sind ohnehin die staatlichen Akten, die deshalb längst als Monumente der Wahrheit in die „Landschaften der Lüge“ (Jürgen Fuchs) ragen. Die, die im vorliegenden Band unter der Rubrik „Aktendämmerung“ dokumentiert sind, lassen sich zweiteilen. Die einen – Pläne und Beschlüsse von SED und MfS – sind eine Art Drehbuch der DDR. Ihnen stehen die (Zerr-)Spiegel des Landes gegenüber – in Form von Berichten der inoffiziellen Mitarbeiter. Allein mit diesem Werkzeug sei die ganze Wahrheit nicht zu finden, urteilen die Herausgeber (und beschränken die Aktenschau auf ein Viertel des Buches).

Immerhin stehen in den gesammelten Akten ein paar Regieanweisungen für das Machtgefüge im Lehrstück DDR. Das Exempel, das in „MachtSpiele“ aufgegriffen wird, ist ein Schulbeispiel für Machtmechanismen in der DDR: Klaus Michael rekonstruiert in seinem Aufsatz die Geschichte einer Anthologie junger, unbekannter Dichter. Die Anthologie sollte 1981 als Arbeitsheft der Akademie der Künste erscheinen – und wurde nie gedruckt. Sie war auf die Tagesordnung des Zentralkomitees der SED gerückt. Die Partei fand die zur Veröffentlichung gesammelten Dichter suspekt, weil keiner und keine von ihnen in irgendeiner staatlichen Institution organisiert war. „Die sogenannten Nachwuchsdichter beleidigen das Leben“, meinte die Partei und verbot das Buch. Seitdem interessierte sich die Staatssicherheit für die Dichter: Wenigstens die Strukturen der offiziellen Macht sind kein Geheimnis mehr, seit die Archive offen sind.

Für die in der Anthologie versammelten Dichter gab es ein Angebot des Staates: Poetenklubs und Dichtereltern, vermittelt vom Schriftstellerverband. Die Dichter lehnten ab – „Die Klubs werden belächelt“, meldete ein IM. Anderen Stoff als in der Schule hätte es dort nicht gegeben: massenhaft Vorbilder samt ausgewählter Werke – alles was das Prädikat „volksverbunden“ verdiente und sich irgendwie unter die Parole „Kunst ist Waffe“ (Friedrich Wolf) quetschen ließ. An diesem Stichwort setzt Wolfgang Ullmann an, der den Eröffnungsbeitrag für „MachtSpiele“ geschrieben hat. Es ist ein fulminanter Auftakt geworden, in dem alle Aspekte des politisch und ästhetisch motivierten Streits um den Prenzlauer Berg aufgegriffen sind. Ullmann, der Theologe und Politiker, schneidet mit ein paar Handgriffen die europäische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts der Länge nach auf. Und zwar an der Stelle, an der es um „Ästhetik des Widerstands“ (Peter Weiss) geht. In diesen Kontext stellt er Wolfs Waffen-Diktum, um das Ganze als anachronistisch abzulehnen. Damit schlägt sich Ullmann im Streit zwischen Biermanns Erben und dem exemplarischen „ästhetischen Idioten“, zu denen sich Durs Grünbein rechnet, auf die Seite der Szene-Literaten. Ullmann verteidigt das Prinzip Widerstand durch Verweigerung. Mit dem nächsten Federstrich greift er jedoch einen Teil der Prenzelberger an, weil sie nicht nur am Rande der DDR eingesperrt waren, sondern sich auch selbst abgrenzten im krampfhaften Versuch, politisch unbrauchbar zu werden. Für Ullmann ist das ebenso eine Sackgasse, wie das, was er als „Kunst im Waffenarsenal“ bezeichnet. Damit kreuzt er zwei Fronten der Debatte und bringt das Motto für das vorliegende Buch, seine Lieblingsforderung an: Man besinne sich auf den Kontext. Friederike Freyer

Peter Böthig, Klaus Michael (Hg.): „MachtSpiele – Literatur und Staatssicherheit“. Reclam Leipzig 1993, 336 Seiten, 22 DM