Ein Maler unter der Glasglocke

Eine Ausstellung in Paris feiert Tizians Einfluß durch die Jahrhunderte  ■ Von Roland Krischel

„Ein bewegliches Fest“ nannte Hemingway die Stadt an der Seine. Paris in den zwanziger Jahren, das war die Welthauptstadt der Kunst. Von hier gingen die weltweit empfangenen Impulse der Kubisten, der Fauvisten und Surrealisten aus. Auch heute ist die französische Hauptstadt eine Kunstmetropole, aber eine rückwärts gewandte. Die wichtigsten Museumsneugründungen der letzten Jahre waren dem 19.Jahrhundert (Orsay) und der klassischen Moderne (Picasso) gewidmet; ähnlich steht es mit den großen Sonderausstellungen. Das bewegliche Fest der diesjährigen Saison bilden die im Grand Palais ausgestellten Gemälde Tizians und seiner Schule.

Seiner Schule? Nun ja, die Macher der Pariser Ausstellung „Le siècle de Titien“ wollen zeigen, welch entscheidenden Einfluß der jung verstorbene Giorgione (etwa 1477–1510) und mehr noch sein langlebiger Nachfolger Tizian (etwa 1489–1576) auf die Entwicklung der Renaissance-Malerei in Venedig und Umgebung hatten. Historische oder kulturgeschichtliche Aspekte werden dabei bewußt ausgeklammert zugunsten einer rein stilkritischen, am sinnlichen Reiz der Malerei orientierten Sicht. Eine elitäre Veranstaltung für den Connaisseur also? Dem widerspricht nicht nur der gewaltige museumsdiplomatische und finanzielle Aufwand der Veranstalter, sondern auch die riesige Schlange wartender BesucherInnen. Tatsächlich bedient die Ausstellung unterschiedlichste Publikumswünsche.

Wer mit dem Namen Tizian bisher nur die vage Vorstellung kostbarer alter Gemälde verband, kann Bekanntschaft mit fünfzig wichtigen, teils schwer reproduzierbaren Originalwerken des Meisters machen. Wie die übrigen gut einhundert Gemälde kommen sie aus Museen der ganzen Welt, ja bisweilen – wie das (trotz arger Putzschäden) hinreißende Bildnis der Laura Dianti – aus sonst kaum zugänglichen Privatsammlungen. Anhand verschiedenster Bildgattungen (Porträt, Altar- bzw. Andachtsbild, weltliche und geistliche Allegorie, Mythologie) lassen sich die Schaffensphasen eines Malers verfolgen, der wie kaum ein anderer nicht nur die Kunst Venedigs und des 16.Jahrhunderts prägte. Dem interessierten Laien wäre der heute oft abstrakt und ungreifbar erscheinende Ruhm Tizians allerdings besser zu erklären gewesen, wenn die Ausstellung über den venetischen Renaissance-Tellerrand hinausblicken würde. Auch ohne weitschweifige Katalogrhetorik hätte sich der jahrhundertelange internationale Einfluß Tizians durch einzelne Bilderketten illustrieren lassen: Dem ohnehin präsenten Selbstporträt aus Berlin- Dahlem hätte der Louvre das von Ingres gemalte Porträt des Monsieur Bertin zur Seite hängen können. Um die Ausstrahlung bis in unser Jahrhundert zu belegen, hätte dann nur noch Picassos Porträt der Gertrude Stein (New York) gefehlt.

Verehrern Venedigs und seiner Malerei wird in der Pariser Ausstellung ein Panorama geboten, das zeitlich von Giovanni Bellini bis Jacopo Tintoretto und räumlich von dem in Rom arbeitenden Tizian-Mitschüler Sebastiano del Piombo bis zum niederländischen Tizian-Schüler Lambert Sustris reicht. Als besonderer Leckerbissen ist der Raum mit Gemälden von Lorenzo Lotto gedacht. Von diesem Maler hat man sich – nicht zuletzt aufgrund seines minuziös geführten und bis auf den heutigen Tag erhaltenen Ausgabenbuchs – das Bild eines tragischen Schicksals gemacht: Der geniale, über seine Verhältnisse lebende Einzelgänger, der vor dem Druck des übermächtigen Tizian aus der Lagunenstadt flieht und seine Marktnischen auf der Terraferma, dem von Venedig beherrschten Festland, sucht. Er ist in der Ausstellung unter anderem mit einem frisch restaurierten, geradezu elektrisierenden Altarbild vertreten und einer unglaublich frechen, namentlich signierten Ehe-Allegorie, über die hier nicht mehr verraten werden soll.

Dem Kenner und Fachmann bietet die Schau, besonders im Giorgione-Saal, die einmalige Gelegenheit zum direkten Vergleich weit verstreuter, in Zuschreibung wie Datierung unsicherer Gemälde und, als besonderen Höhepunkt, die Begegnung mit dem lange in einer New Yorker Privatsammlung verborgenen Selbstporträt Tintorettos. Das Bild entstand um 1546, als Tintoretto etwa 27 Jahre alt war. In der Malweise unterscheidet es sich bereits radikal von der Porträtkunst Tizians, denn trotz des intimen, zur nahsichtigen Betrachtung herausfordernden Formats setzt sich das Gesicht aus lauter einzelnen Pinselstrichen zusammen, die mehr an Fresko- als an Ölmalerei gemahnen und dem kleinen Bild eine erstaunliche Monumentalität verleihen. Der ostentativ schnellen Malweise entspricht die Wachheit im Ausdruck: Ohr, Nase und Augen sind zur witternden Aufnahme jener zahllosen Sinneseindrücke aufgesperrt, die einem aufstrebenden, jungen Maler in der frühneuzeitlichen Weltstadt Venedig auf Schritt und Tritt begegneten.

Eine Ausstellung für sich ergäben alleine schon die über einhundert ausgestellten Zeichnungen. In ihnen wird, über die materielle, stilistische und thematische Vielfalt hinaus, auch die Arbeitsweise der venezianischen Künstler deutlich. Zwei überaus folgenreiche, jedoch durch Brand zerstörte Schöpfungen Tizians, nämlich die sogenannte „Schlacht von Spoleto“ und der „Petrus Martyr“, sind durch vorbereitende Zeichnungen präsent, wie auch jeweilige Nachschöpfungen oder Konkurrenzentwürfe anderer Künstler. Dank ausgeklügelter Präsentation ist bei vielen Zeichnungen Vorder- und Rückseite sichtbar. So etwa bei Kat. Nr. 108, einem Blatt des deutschstämmigen Kupferstechers Domenico Campagnola, das schlagartig die beiden Seiten der italienischen Hochrenaissance- Kultur sichtbar macht: Während die Vorderseite den Entwurf für eine religiöse Graphik zeigt, ist auf der Rückseite die Skizze für einen erotischen Kupferstich zu sehen.

Zwar ist der Reiz der Einzelstücke enorm; die Ausstellung erreicht aber ihre Absicht, den großen stilistischen Einfluß Tizians zu belegen, nur zum Teil. Eine große Anzahl der im Grand Palais ausgestellten Gemälde war in den vergangenen Jahren auch bei anderen Ausstellungen zu sehen – so etwa Tizians „Häutung des Marsyas“, das zu einem Reisebild geworden ist. Umgekehrt blieben der Pariser Ausstellung meist jene entscheidenden Leihgaben versagt, die schon bei anderen Retrospektiven fehlten: Die mythologischen Gemälde in Edinburgh und London verlassen ihren Aufbewahrungsort ebensowenig wie die „Europa“ in Boston oder die epochemachenden Altargemälde in der venezianischen Frari-Kirche.

Gerade vor diesem Hintergrund erscheint die einseitige Betonung von Giorgiones und vor allem Tizians Einfluß riskant und fragwürdig. Im Grand Palais entsteht der Eindruck, Tizian habe unter einer nur von außen durchsichtigen Glasglocke gearbeitet, sei das einzige, selber nur von Giorgione beeinflußte Leitbild der venezianischen Renaissance-Malerei gewesen. Wie leicht hätte man dem schon anhand von Pariser Beständen entgegenwirken können, etwa durch Konfrontationen Leonardo–Giorgione oder Raffael–Tizian. Dürer und Michelangelo, die beide Venedig besuchten und beeinflußten, könnten durch Druckgraphik präsent sein, und auch Raffaels skrupelloser Schüler Giulio Romano dürfte eigentlich nicht fehlen. Wie Tizian nahm beispielsweise auch Tintoretto von seinen Aufenthalten in Giulios Hochburg Mantua prägende Eindrücke mit.

Die vorzügliche Bildrecherche, die kluge Hängung, der aufwendige Katalog stehen in eigenartigem Mißverhältnis zum Erkenntnisgewinn der Pariser Ausstellung. Das wird besonders deutlich, wenn man sich die jüngste Forschungsentwicklung vor Augen hält. Anders als im Katalogvorwort behauptet, werden keineswegs nur die zwischen Tizian und Giorgione hin- und hergeschobenen Bilder von der Fachwelt besonders heiß diskutiert. Seit der Monographie von Charles Hope (1980) ist vor allem die bis dato anerkannte Datierung von Tizians Spätwerk ins Wanken gekommen. Eine zentrale These der jüngsten Tizian-Forschung wurde in Ausstellung wie Katalog diskussionslos übergangen: Viele der fleckenhaft gemalten, angeblich so vergeistigten Alterswerke seien schlicht unvollendete Bilder aus früheren Schaffensphasen. Auch die jüngst von Hans Ost untersuchte Bindung von Tizians Malstil an die jeweilige Bildaufgabe geht im Nebeneinander unterschiedlichster Bildgattungen und Vollendungsgrade unter. So wird nicht deutlich, daß auf Fernsicht oder kurze Lebensdauer berechnete Bilder auch vom jüngeren Tizian viel flüchtiger gemalt werden als etwa teure Repräsentationsstücke. Sollte das versteckte Ziel der Ausstellung darin bestehen, ein altes, derzeit von verschiedenen Seiten in Frage gestelltes Tizian-Bild zu zementieren?

Die Datierungsprobleme der Kunsthistoriker können dem Publikum der Pariser Ausstellung noch mit einem gewissen Recht gleichgültig sein. Aber durch den bewußten Verzicht auf eine historische Perspektive bringen die Organisatoren sich und die Besucher auch um die Früchte anderer vielversprechender Forschungsansätze. Neben dem jüngst entdeckten und wohl längst nicht ausgereizten Thema „Tizian und die Politik“ zählen dazu auch Untersuchungen über die sozialen und wirtschaftsgeschichtlichen Grundlagen der venezianischen Malerei. So wird nicht deutlich, daß sich Tizian durch die Bindung an den internationalen Hochadel eine ökonomische wie kunstmarktpolitische Sonderstellung erworben hatte, die er im Kampf gegen jüngere Konkurrenten wie Tintoretto geschickt auszunutzen verstand. Überhaupt bleibt das Thema der Künstlerkonkurrenz fast völlig im dunkeln. Zu Unrecht, denn mangels höfischen Mäzenatentums bildete sich in der Lagunenstadt früher als anderswo ein moderner

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Kunstmarkt aus, der zu Überangebot, Preisverfall, ja einer gewissen Verelendung der Künstler führte. Der aus diesen Bedingungen entstehenden Schnellmalerei eines Tintoretto trat im Verlagszentrum Venedig übrigens (wie unlängst Paul Hills darlegte) die Schnellschreiberei zur Seite. Diesen Themenkreis hätte man auf verschiedene Weise ausstellen können. Schon vergangenes Jahr hätte der 500.Geburtstag des Wahlvenezianers und Tizian-Intimus Pietro Aretino, des „ersten Journalisten“, Anlaß sein können, dessen einflußreiche Kunstsammlung zu rekonstruieren. In seiner Wohnung beim Rialto hatte Aretino über die Jahre hinweg durch Schmeichelei und Erpressung eine kleine, aber feine und vielseitige Sammlung aufgebaut. Wenn die Kunde von derlei Neuzugängen sich in Venedig verbreitete, rannte die dortige Künstlerschaft Aretino nach seinen eigenen Worten „das Haus ein“, um zum Beispiel neueste Reproduktionsstiche nach Raffaels Kompositionen oder Abgüsse nach Michelangelos Skulpturen zu sehen.

Der als „Paragone“ bezeichnete Wettkampf zwischen Malerei und Skulptur hätte – als sublimierter Konkurrenzkampf – Thema einer für Laien wie Fachleute anregenden Ausstellung sein können. Wie bedeutend sind doch die antiken Puttenreliefs im archäologischen Museum von Venedig für das fliegende Personal in Tizians Gemälden. Den „Berliner Betenden“, eine Bronzestatue des Pergamon- Museums, besichtigten einst nicht nur Aretino und Lorenzo Lotto in einer venezianischen Privatsammlung.

Eine Ausstellung, die so stark auf die Begegnung mit den sinnlichen Phänomenen der Malerei, der erotisch-lyrischen Körperhaftigkeit in Jugendwerken und den mystisch-körperlosen Visionen im Alterswerk zählt, müßte viel stärker auf den materiellen Zustand der Gemälde eingehen. Viele der ausgestellten Bilder haben über die Jahrhunderte ein Marsyas- Schicksal erlitten, wurden ganzer Farbhäute beraubt. Oft wünschte man sich kurze Hinweise auf den Erhaltungszustand, um kontrollieren zu können, inwieweit der „impressionistische“ Aspekt des jeweiligen Gemäldes auf den Einfluß Giorgiones bzw. Tizians zurückgeht und inwieweit auf ältere oder neuere Beschädigungen der Bildoberfläche. Wieso brüstet man sich mit den zahlreichen, speziell für die Ausstellung vorgenommenen Restaurierungen, wenn deren Ergebnisse selbst im dickleibigen Katalog nur gestreift werden? Wo sind die Röntgenaufnahmen, Farbschnitte und vergleichenden Analysen der Maltechnik?

Da in der eindimensionalen Sicht der für Macher wie Publikum teuren Pariser Schau nur Tizian als Befruchter dargestellt ist, bleibt in der Erinnerung vor allem ein Gemälde, die Madrider „Danae“, haften: Tizian als Goldregen.

Die Ausstellung im Grand Palais ist noch bis zum 14. Juni 1993 zu sehen. Geöffnet von 10 bis 20 Uhr, außer dienstags, mittwochs bis 22Uhr. Eintritt 45 FF (montags 31FF). Katalog 390 FF