Aufruf aus dem Warschauer Ghetto

■ Aus: "Die Zweite Etappe ist der Tod" von Ruta Sakowska

An die jüdischen Volksmassen im Ghetto!

Am 22. Januar 1943 sind sechs Monate vergangen, seit die Aussiedlungen in Warschau begannen. Wir alle gedenken der Schreckenstage, in denen 300.000 unserer Brüder und Schwestern fortgeschleppt und im Todeslager Treblinka bestialisch umgebracht wurden. Sechs Monate lebte man nur in Todesangst und wußte nie, was der kommende Tag bringen würde. Von überallher erhielten wir Nachrichten über die Ausrottung der Juden im Generalgouvernement, in Deutschland und den besetzten Ländern. Jedesmal beim Hören dieser Trauerbotschaften warteten wir darauf, daß auch unsere Stunde gekommen sei. Heute wissen wir, die Hitlermörder ließen uns nur deshalb bisher am Leben, um unsere Arbeitskraft bis zum letzten Tropfen von Schweiß und Blut auszunutzen. Wir sind Sklaven. Sobald einem aber ein Sklave nicht mehr von Nutzen ist, wird er einfach ausgerottet. Das sollte jeder von uns begreifen und sich ständig vor Augen halten.

Jüdische Volksmassen, die Stunde naht. Ihr müßt bereit zum Widerstand sein. Ihr dürft Euch nicht wie die Hammel abschlachten lassen! Kein einziger Jude soll mehr in die Waggons verladen werden! Wer sich nicht aktiv am Widerstand beteiligen kann, soll ihn passiv leisten, das heißt, er soll sich verstecken. Wir erhielten jetzt eine Nachricht aus Lemberg, daß dort die jüdische Polizei selbständig eine Aussiedlung von 3.000 Juden durchführte. So etwas wird in Warschau nicht geschehen! Unsere Parole muß jetzt sein:

Jeder sei bereit, wie ein Mensch zu sterben!

Diesen Aufruf aus dem Warschauer Ghetto entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung dem gestern erschienenen Buch von Ruta Sakowska ‘Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer' (Edition Henrich). Den oben in Auszügen faksimilierten Text hat Iris von Stryk aus dem Jiddischen übertragen.