Widerstand als Sinngebung

Der Warschauer Ghettoaufstand ist ein umstrittenes Ereignis im modernen jüdischen Selbstverständnis: die Frage nach der Bedeutung und Möglichkeit bewaffneten Widerstandes wird immer wieder neu gestellt  ■ Von Dan Diner

Angesichts der totalen Vernichtung der Juden durch die Nazis bleibt bis in die Gegenwart hinein kontrovers, was überhaupt unter Widerstand verstanden werden kann.

Gemeinhin ist mit Widerstand bewaffneter Kampf gemeint. Auch das jüdische Gedächtnis nach der Massenvernichtung blieb geneigt, vornehmlich solche Handlungen als Widerstand einzustufen, die in militärischer Form erfolgten. Dies entsprach nicht zuletzt auch dem Nachkriegsbewußtsein, die Nazis hätten einen regelrechten Krieg gegen das jüdische Volk geführt. Mittels solcher Perzeption ließ sich das Ereignis der Massenvernichtung in der Tat sinnstiftend in die Kontinuität von Kollektivgeschichte der Juden einreihen und zu anderen Katastrophen wie der Vertreibung aus Spanien analogisieren.

Die bewaffnete Staatsgründung Israels, unmittelbar auf 1945 folgend, schien eine solche Geschichtssicht zu bestätigen – und zwar als Entgegensetzung: Untergang und Widergeburt.

Auch im Wirken der Ghettokämpfer und Partisanen aus Europa im Palästina-Krieg 1948 schien sich diese Kontinuität wiederfinden zu lassen. Der bewaffnete Widerstand im Warschauer Ghetto im April/Mai 1943 nahm vornehmlich seiner militärischen Attribute wegen im kollektiven Gedächtnis einen derart herausragenden Platz ein.

Die eindringliche Wirkung der Bilder vom Aufstand im Bewußtsein von Überlebenden und Nachgeborenen offenbaren dies: Der mit erhobenen Armen die Geste eines Kriegsgefangenen imitierende Junge angesichts der SS- Schergen vor der Kulisse des brennenden Ghettos steht für die militärische Selbstanerkennung als Feind.

Doch er und die Seinen werden nicht etwa in ein Kriegsgefangenenlager überführt, sondern – soweit sie nicht als „Banditen“ auf der Stelle erschossen wurden – nach Treblinka, ins Gas. Aber das Bewußtsein strebt danach, die hohe Bedeutung des Militärischen zu wahren – als Moment von Restanerkennung als Mensch.

Hinter solchen Bildern tritt die drückende Realität der Massenvernichtung zurück. Die Bilder des Ghettoaufstandes finden sich eher in einen Zusammenhang jüdischer Geschichte verschoben, der für das Bewußtsein nach 1945/48 konstitutiv geworden war – der Widerstand gegen das übermächtige Rom auf Masada.

Doch solche Konstruktion führt in die Irre. Die miteinander in Verbindung gesetzten Ereignisse unterscheiden sich fundamental voneinander. Die Nazis waren auf die völlige Vernichtung der Juden aus – Rom allein auf ihre Unterwerfung. Jegliche historische Erfahrung von Widerstand prallt am Phänomen der nationalsozialistischen Massenvernichtung ab.

Wie läßt sich angesichts eines derartigen Geschehens ein sich dem entgegensetzender „Widerstand“ überhaupt begreifen? Welche Bedingungen gilt es zu bedenken, soll unter solchen Umständen von Widerstand gesprochen werden?

Schon soziologisch stößt der Beobachter auf Schwierigkeiten. Welchen Widerstand hätten etwa die ersten Opfer der Nazis, die deutschen und österreichischen Juden leisten können? Bei dieser Bevölkerungsgruppe konnte nicht einmal von einem Kollektiv gesprochen werden, das ein Bewußtsein seiner selbst hat – wie etwa im Falle der Juden Polens. Es handelte sich doch im wesentlichen um vereinzelte Menschen, die zum Teil durch die Nazis erst auf ihre jüdische Herkunft gestoßen worden waren.

Sieht man von den durch die Nazis verordneten kulturellen und Verwaltungseinrichtungen in den 30er Jahren einmal ab, so wurden diese Menschen erst an den Sammelstellen zur Deportation in die Ghettos und Lager im Osten unter dem Zwang der Umstände zu einer Gruppe zusammengeführt.

Und es dürfte kein Zufall gewesen sein, daß das Attentat auf den deutschen Botschaftsangehörigen von Rath, das die Nazis zum Anlaß für das Novemberpogrom 1938 nahmen, von einem polnischen Juden, dessen Eltern aus Deutschland vertrieben worden waren, durchgeführt wurde – und zwar in Paris. Kein deutscher Jude wäre in Deutschland auf eine solche Idee gekommen – der Konsequenzen für die anderen wegen.

Die Juden Ost-Europas, die über ein ethnisches Bewußtsein als Volksgruppe verfügten, mochten Elemente wie Gruppensolidarität und psychischen Zusammenhalt aufweisen – eine Bedingung für eine eventuelle militärische Vorgehensweise. Aber auch diese waren in hohem Maße beschränkt und kamen letztendlich nur unter suizidalen Bedingungen der Auswegslosigkeit zum Zuge.

Angesichts der entgrenzten Realität der Massenvernichtung gilt es – was Widerstand betrifft – über die enge militärische Form hinauszudenken. Bei Wissen um die totale Vernichtung kann nämlich Rettung jüdischen Lebens um jeden Preis – Flucht und individueller Entzug eingeschlossen – als absolut angemessene Widerstandsform erachtet werden; und dies ganz im Unterschied zur traditionellen, vor allem den mittelalterlichen Judenverfolgungen entsprechende Reaktion des „al Kiddusch ha'Schem“ – als sich Juden der Zwangstaufe durch Selbstentleibung oder der Hinnahme des Todes entzogen. Angesichts der totalen Vernichtungsabsicht der Nazis, die an keinerlei Bedingung und Verhalten der Opfer und damit auch nicht an einen Übertritt zum christlichen Glauben geknüpft war, mußte sich „al Kiddusch ha'Schem“ als unsinnig erweisen. Im Gegenteil: Weil die Nazis den Tod aller Juden beabsichtigten, mochte sogar das umstrittene Vorgehen der „Judenräte“, viele für die Rettung von wenigen hinzugeben, eine angesichts der Totalität der Vernichtung unter Umständen angemessene Vorgehensweise sein.

Derart singulärer Umstände wegen gilt es, das zentrale Problem des jüdischen Widerstands unter den Nazis – den Gegensatz zwischen dem bewaffneten Untergrund in den Ghettos und der Institution der „Judenräte“ – neu zu bedenken. Richtete sich der bewaffnete Widerstand – meist von Jugendlichen, bar jeder familiären Bindung und damit unmittelbarer Verantwortung durchgeführt – auf die unmittelbare Erhaltung von Menschenleben, dann kamen Widerstand und Rettung zur Deckung.

Wurde die Entscheidung des Untergrunds zum Losschlagen jedoch ausschließlich als Verzweiflungstat verstanden, bei der es wesentlich darauf ankam, den Feind zu treffen, um die Todesart des bewaffneten Kampfes zu wählen, dann hatte der Widerstand als Aufstand einen anderen Zweck als die Erhaltung von Leben. Vornehmlich ging es dabei um die eigene Würde und um eine lebbare Erinnerung für die Nachgeborenen.

Die Auseinandersetzung zwischen militärischem Untergrund und „Judenräten“ in den Ghettos, die durch nachgiebiges Hinhalten Zeit zu gewinnen und damit zumindest die Möglichkeit der Lebensbewahrung zu erhalten suchten, läßt sich jeweils nur im Einzelfall angemessen beurteilen. Die Entscheidung, angesichts eines absoluten und kollektiven Todesurteils, wie es die Nazis über das europäische Judentum ausgesprochen hatten, entweder bewaffneten Widerstand zu leisten oder andere Wege zu suchen und dabei etwa durch hinhaltende Nachgiebigkeit alternativlos den Henkern in die Hände zu spielen, ist eines der schwierigsten ethischen Probleme des Holocaust.

Autoren wie Hannah Arendt in ihrem Eichmann-Buch, aber auch Raul Hilberg in seinem Kapitel über die Reaktionsweise der Juden angesichts der Nazi-Herrschaft – um nur die bekanntesten zu erwähnen – machen es sich in ihrem Urteil zu leicht, wenn sie die dramatische und dilemmatische Lage der „Judenräte“ herunterspielen oder gar so etwas wie ein traditionelles jüdisches Verhalten als Bedingung der Vernichtung insinuieren. Und beide gehen von einer Vorstellung aus, die eher einem Krieg gegen das jüdische Volk als einem Subjekt der Politik angemessen wäre. Die dabei untergründig anklingenden Vorwürfe von „Verrat“ und „Kollaboration“ verweisen wohl eher auf die Illusionen eines nationalen Selbstbildes und den darin idealiter beschlossenen Reaktionsweisen denn auf die Umstände, in denen sich die Juden Europas 1941 bis 1945 befunden haben.

Der Warschauer Ghettoaufstand ist heute das herausragende Ereignis modernen jüdischen Selbstverständnisses. Obwohl es sich hierbei wesentlich um eine Verzweiflungstat handelte, die obendrein zu einem Zeitpunkt erfolgte, als die überwiegende Mehrheit der Warschauer Juden längst nach Treblinka deportiert worden war, hat dieses Ereignis vor dem Hintergrund der Sinnlosigkeit der Massenvernichtung die Bedeutung einer letzten Sinngebung angenommen.

Vor allem in den 50er Jahren – und eigentlich bis in die 80er Jahre hinein – zog sich die Wahrnehmung des Holocaust auf ein Ereignis zusammen, das den Schrecken zu überschreiten sucht. Darin ist eine tiefe Bedeutung zu sehen. Und erst jüngst tritt die Massenvernichtung in ihrer ganzen Dimension ins Bewußtsein.

Daß die Bewältigung eines Ereignisses, demgegenüber schier keine Handlungsmöglichkeit bestand, erst mit entsprechender Distanz möglich wird, dürfte in der Natur der Sache begründet sein.