„Nie wieder nach Hause gekommen“

■ Überlebende des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto im Gespräch

Ein Satz der Herausgeberin, der polnischen „Nachgeborenen“ Anka Grupinska, steht am Anfang: „Diese Gespräche und viele andere habe ich für mich geführt und für all diejenigen, die, ähnlich wie ich, um jene Welt kreisen, ohne sie jemals erreichen zu können.“ Acht Gespräche mit den wenigen Überlebenden des jüdischen Ghetto-Aufstands in Warschau, der sich am 19. April zum 50. Mal jährt. Aber kann man es Gespräch nennen, dieses Abarbeiten an Marek Edelman, dem letzten lebenden Anführer der von Historikern auf insgesamt 500 geschätzten Kämpfer gegen die deutsche Übermacht? Krupinska ringt mit dem knorrigen, spröden, mundfaulen Monolithen, versucht ihm, mit den üblichen Informationsfragen, die Vergangenheit kalendarisch zu entlocken – und er verweigert sich, kommt wie ein Gewitter über sie: „Ich verstehe nicht, was Sie meinen ... „Redet keinen Unsinn... Diese Einzelheiten sind doch nicht von Bedeutung ... Weil du ein Kind bist ... Ich habe keine Lust mehr...“. Wo Krupinska die heroische Tat im Widerstand sucht, war für ihn alles Instinkt: „Töte den, der dich töten will – das war die einzige Moral. Töten.“ Edelman, der nach dem Krieg in Polen blieb („ich hatte keine Lust mehr, weiterzugehen“), will Krupinska einfach nicht in den Kreis treten lassen. Sie, die Junge, fragt tapfer weiter, er hält sie sich vom Leib: „Ihr wollt die heutige Moral auf die damalige Zeit übertragen.“

Mit den folgenden Gesprächspartnern muß die junge Polin zumindest nicht mehr ringen. Die sechs Gespräche wurden 1989 in Israel geführt, da alle nach dem Ende des Krieges Polen verlassen hatten. Masza Glajtman Putermilch, Aron Karmi, Pnina Grynszpan-Frymer und Luba Gawissar lassen sich gerne fragen. Bei einigen sind die Erinnerungen präzise bis hin zum Datum, andere beschreiben Szenen, die sich in ihr Gedächtnis brannten. Viele der damals 15- bis 23jährigen hatten durch die im Ghetto stattfindenden „Umsiedlungen“ schon die Eltern verloren. Ihre „Abschiede“: Masza Putermilch sah den Vater zuletzt, als sie ihn hinter einer Schrankwand versteckte, die die Nazis aber entdeckten. Pnina Grynszpans Familie wurde vom Umschlagplatz abgeholt. Aron Karmi wurde vom Vater, als die Familie schon im Transport nach Treblinka war, zum Absprung vom Waggon überredet: „Wenn ihr springt, dann kann uns vielleicht jemand rächen. Die Tatsache, daß ich lebe, habe ich nur meinem Vater zu verdanken.“

Sie waren jung, allein, im Ghetto, erlebten die Abtransporte, wußten, daß auch sie irgendwann umgebracht würden. Viele litten darunter, daß sich trotz ihrer Überzahl niemand traute, die Deutschen anzugreifen. „Wir hätten sie doch erdrücken, ersticken können.“ (Grynszpan) Ihr Motiv, sich bewaffneten kleinen Gruppen, die vom „Bund“ (Jüdische sozialistische Partei) oder zionistischen Bewegungen wie „Poale Zion“ gegründet wurden, anzuschließen war: „Rache zu nehmen. Wir wollten den Moment erleben, in dem wir uns wehrten, wir wollten einen mitat kavod, einen ehrenvollen Tod.“ (Putermilch) Akribisch planten die Jugendlichen ihren Aufstand. Sie wußten Anfang 1943, daß die Liquidierung des Ghettos bevorstand. In einzelnen Straßenzügen waren nicht nur Bunker im Keller ausgebaut, sondern auch Tunnel gegraben und Durchbrüche zu anderen Häusern gehauen worden. Vorher hatten die Gruppen in leerstehenden Wohnungen gelebt und sich im Umgang mit den wenigen Waffen, die sie sich von außen hatten besorgen können, trainiert. Sie lebten zusammen, wollten gemeinsam sterben.

Zum 20. April wollten die Deutschen dem Führer ein „judenfreies Warschau“ schenken. Am 19. kam es zum Aufstand. Schnell war die Munition verbraucht, eine der beiden Minen gezündet. Alle erleben, wie Freunde umkommen oder sich umbringen, da sie keinen Ausweg mehr sehen. Als die Nazis ganze Straßenzüge in Brand setzen, gelingt es einer Gruppe von 40, durch die Kanalisation mühsam auf die „arische Seite“ zu gelangen. In eindringlichen Szenen gelingt es besonders den Frauen, diese Flucht zu beschreiben. Einige versteckten sich bis Kriegsende im Warschau oder anderswo, andere kämpften im polnischen Widerstand weiter. Bis auf Marek Edelman und Adina Blady Szwajger, letzte Gesprächspartnerin, verließen alle den „Friedhof“ Polen.

Mit Adina Blady Szwajger schließt sich der Kreis. Sie ist der gesprächsbereite (weibliche) Kontrapunkt zu Edelmann. Ihre Betrachtungen zum Nachkriegspolen, der Relativität von Zeit angesichts des Todes, dem Alter und der Erinnerung scheinen wie eine Fügung alles vorher Gesagte nochmals zu bündeln. „Niemals, nirgends mehr werde ich mein Zuhause haben. Im Juli 42 bin ich von zu Hause weggegangen und nie wieder nach Hause gekommen.“ Andrea Seibel

Anka Grupinska: „Gespräche mit jüdischen Kämpfern“. Verlag Neue Kritik, 1993, 256 S., 38 DM

siehe auch die Seiten 14 und 15