Heftig rudernd in Richtung Paradies

■ Ex-Genesis Peter Gabriel unterhielt sein mitgealtertes Publikum einen Abend lang in der Berliner Deutschlandhalle

Als ich 1976 oder '77 zum ersten Mal Genesis live sah, war es eigentlich schon zu spät. Peter Gabriel war gerade ausgestiegen. Seinen Part übernahm ein kleiner, fast glatzköpfiger Wicht, der Schlagzeuger der Band: Phil Collins. Wir hatten damals, wie es unsere Art war, die Notausgänge aufgebrochen und ohne Eintrittskarte die Ordner überrannt.

Jedesmal, wenn Phil Collins in Siegerpose den Daumen nach oben hielt, antworteten wir ihm mit dem Daumen nach unten. Sicherlich war er am Ausstieg von Peter Gabriel schuld; Genesis jedenfalls war für uns, ohne den Maskenspieler und kreativen Kopf Gabriel, so gut wie gestorben. Aus purer Langeweile stürmten wir im Jahr darauf wieder die Halle, hauptsächlich um Collins zu ärgern.

1982 dann war Peter Gabriel endlich wieder auf Tournee. Statt mit einem Freund hinzugehen, der eine Karte zuviel hatte, entschied ich mich für den Besuch einer Kasernenblockade der Friedensbewegung. Demo statt Konzert, das war politisch korrekt, aber innerlich eine Qual: Ich hatte die wohl beste Tournee in Gabriels Laufbahn verpaßt. Er hatte sich rückwärts ins Publikum fallen lassen.

Elf Jahre später spielt Peter Gabriel wieder in Berlin. Er ist alt geworden, hat tiefe Falten in der Stirn. Sein Publikum ist mitgealtert, kaum jemand unter dreißig in der ausverkauften Halle. Wenige sympathische Gesichter, viele Männer mit Schnurrbärten, die ihre Frauen festhalten.

Gabriel hat den Innenraum der Deutschlandhalle mit zwei Bühnen und einem Laufsteg dazwischen ausstatten lassen. Die erste, eckige Bühne ist an ihrem alten Platz, der Weg führt mitten durchs Publikum zur runden Bühne im Mittelpunkt der Halle. „Talk to me“ – Gabriel steigt zum Auftakt in einer englischen Telefonzelle aus dem Boden empor. Die Tür ist zu, er telefoniert, alle hören mit. Nach einiger Zeit öffnet er die rote Zelle, zieht schwerfällig den Hörer am Kabel hinter sich her, bis er bestimmt fünfzig Meter zurückgelegt hat. Er trägt jungfräuliches Weiß, von Kopf bis Fuß, bewegt sich ungelenkig, seine Tanzschritte sind scheinbar lange geprobt. Jeder Ausfallschritt, jede Handbewegung – besonders gern rahmt er sein Gesicht mit den Händen ein – scheint von einem Choreographen ausgedacht und wochenlang trainiert.

Seine Stimme, zunächst brüchig und klobig, wird langsam ausdrücklicher. Die Band, immer noch ist Bassist Tony Levin dabei, der schon auf Gabriels 77er Album mitspielte, agiert synthesizer- orientiert. Die Keyboarderin imitiert zwischendurch eine siebziger Schweineorgel. Auf einer Flußfahrt (ohne Huhn) muß die komplette Band Gabriel zum weit entfernt stehenden Geiger Shankar auf eine Insel begleiten. Alle stehen in einem Boot, ein Fließband befördert die Menschen langsam, Gabriel rudert die Arche mit einer großen Holzstange Richtung Paradies.

„Games Without Frontiers“ – „Isch freue mich, daß Berlin gegen Rasssismus ist...“ Auf der runden Bühne wächst ein Baum aus dem Boden. Der Sänger besingt „A Man And A Woman“, viele Pärchen umklammern sich fester. Erwachsene Frauen halten Feuerzeuge in die Luft, Männer singen den Text mit. Später werden sie in ihrem Golf die CD hören und zufrieden nach Hause segeln. Montag kann man im Büro dann vom Samstag erzählen.

Gabriel bedient die gleiche Klientel, wie der von mir immer noch gehaßte Ex-Kollege Collins. Seine Musik – die neuen Stücke sind fade und zu getragen kirchenmäßig, die alten werden hitmäßig abgeleiert – wird zwar nicht von VW präsentiert, aber die rebellische und merkwürdig eigensinnige Art Gabriels geht verloren in diesem technisch aufwendigen Spektakel. Oder umgekehrt: Ohne die drehbare Videoleinwand, den Riesenkopf (Lenin?), den Gabriel bei „Diggin' In The Dirt“ ausgräbt, ohne das mit Fernseher ausgestattete Motelzimmer, den Garten Eden und die ständig woanders stehenden Musiker – ohne diesen gar nicht mal schlecht inszenierten und geschickt ausgeleuchteten Firlefanz wäre der Abend dann doch recht langweilig. Andreas Becker