Vom Häuserkampf läßt der "Dicke" nicht

■ Gesichter der Großstadt: Der ehemalige Baustadtrat Werner Orlowsky wurde fünfundsechzig Jahre alt

Vor genau zehn Jahren hat das Abgeordnetenhaus die zwölf Grundsätze der behutsamen Stadterneuerung verabschiedet. Doch es gehört zu den politischen Zeitläuften, daß dieses Jubiläum keinerlei öffentliche Würdigung erfuhr – sie vielmehr „eine verblassende historische Reminiszenz an eine von Hoffnungen an wirkliche Veränderung getragene Aufbruchstimmung“ sind, wie Werner Orlowsky über „sein“ Geschöpf resümiert. Als resignatives Fazit will der jetzt fünfundsechzig Jahre alt gewordene Orlowsky das nicht verstanden wissen. Er setzt immer noch auf das Engagement von unten, auf die Bewohner und Mieter Kreuzbergs, auch wenn die Umstrukturierung seinen Bezirk heute kaum weniger bedroht wie zu Anfang seiner langen politischen Karriere.

Politiker ist er geworden aus Betroffenheit. Politik wird nicht am Schreibtisch gemacht, sondern bei den Menschen, hat er in seinen acht Jahren als Baustadtrat nie vergessen. Das hat ihn zum Prototyp eines Politikers werden lassen, bei dem jede Oma unbesehen einen Gebrauchtwagen kaufen würde, und zum einzigen volkstümlichen Politiker, den die Alternative Liste je hatte. Ausgestattet mit der Gelassenheit der Leibesfülle, scheute er nie den Dialog, seitdem er 1981 als erster grüner Amtsträger der Republik das Bauressort übernahm. Sein Amtsantritt war das Zeichen für einen Zeitenwende und eine Politik, die die Interessen der Menschen im Bezirk nach jahrelanger Vernachlässigung wieder ernst nahm. Beharrlich kämpfte er für die neue bauliche Gestaltung des Bezirks und wurde zum Gegenspieler eines CDU-Senats, dessen Baupolitiker sich zumeist als geistige Erben der Kahlschlagsanierung begriffen.

Diese verheerendste Zerstörung der Stadt in Friedenszeiten, die Berlin erleiden mußte, hat Orlowsky einst auf die Straße gebracht. Mitte der siebziger Jahre, als Kreuzberg von Abriß, Leerstand und der Autobahnplanung zerstört wurde, als die arbeitsfähige Bevölkerung ins Märkische Viertel und Gropiusstadt umgesiedelt wurde, hat sich Orlowsky der endgültigen Zerstörung des Bezirks widersetzt. Damals betrieb er, der einst eines der Gründungsmitglieder der Freien Universität war, in der Dresdener Straße eine Drogerie. Doch sein Laden wurde erdrückt vom Schatten des „Neuen Kreuzberger Zentrums“ am Kottbusser Tor, eine der übelsten Betonburgen, den die Spekulantenbranche dem Bezirk angetan hat. Diktiert von Profitinteressen, wurden die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen von Mietern und Kleingewerbe zerstört und dem Bezirk all jene sozialen Probleme beschert, mit denen Kreuzberg heute noch zu kämpfen hat.

Alles andere als ein begnadeter Aktenverwalter, hat Orlowsky seine Amtszeit als „acht Jahre legalen Häuserkampfes“ begriffen. Oft genug ist der Baustadtrat mit seinen Bebauungsplänen allerdings dabei am Bausenator und dessen Kompetenzen gescheitert. Zugesetzt hat ihm darüber hinaus über die Jahre die CDU mit kleinlichen Intrigen. Hochgespielt wurde beispielsweise die private Verwendung einer Sechzig-Pfennig-Briefmarke als Bereicherung.

Und auch die SPD tat alles, um den Konkurrenten zu Fall zu bringen, der den Sozialdemokraten die Stimmen abzog. Den soliden Grundstein einer kürzlich auch gerichtsnotorisch gewordenen Feindschaft mit Orlowsky legte der ehemalige Regierende Bürgermeister Momper als Kreuzberger SPD-Vorsitzender: 1985 versuchte Momper wochenlang mit windigen Manövern, die Wiederwahl Orlowskys für eine zweite Amtsperiode zu verhindern. Schwierigkeiten bereitete Orlowsky sich freilich auch in Eigenregie: So war er naiv genug, auf einem Amtsbogen um eine Arbeitsstelle für seine Tochter, eine arbeitslose Lehrerin, zu bitten.

Seiner Popularität tat das freilich keinen Abbruch. Hinzu kommt sein Gespür für öffentlichkeitswirksame Gesten. So scheute sich „der Dicke“ nicht, angetan mit Bademantel und Schwimmflossen, in eine Badewanne zu steigen, um die Bauverzögerung des Kreuzberger Spreewaldbades anzuprangern.

Welche neue Konfliktlinien sich im Bezirk entwickelt hatten, mußte Orlowsky 1987 freilich beim Konflikt um den Bau einer Kindertagesstätte auf dem Gelände des Kinderbauernhofes an der Waldemarstraße erfahren. Er verantwortete die polizeiliche Räumung des Geländes und machte sich damit zur Zielscheibe der Kritik der autonomen Szene in SO 36, die ihn als Vollstrecker der Yuppiisierung des Bezirks geißelte. Daß er dabei auch von der Alternativen Liste, deren eingeschriebenes Mitglied er nie war, im Regen stehengelassen wurde, hat Orlowsky lange nicht verwunden.

Anfang 1989 gab der „dicke Rächer der Entmieteten“ – so der Kreuzberger Spott – sein Amt ab. Zurückgezogen aber hat er sich nicht. Im „Verein SO 36“, den er einst vor fast fünfzehn Jahren mitbegründete, und in bezirklichen Gremien ist er weiterhin mit Entmietung, Spekulationsfieber und mißachteten Mieterrechten konfrontiert. Zusätzlich bringt er auch am Prenzlauer Berg seine Erfahrung in behutsamer Stadterneuerung ein. Und er hegt die leidenschaftliche Hoffnung, daß die von ihm als „Magna Charta“ der Stadterneuerung bezeichneten Grundsätze sich gegen das „große Geld“ wieder mehr durchsetzen können – mit dem Druck von unten. Gerd Nowakowski