Späte Beweise im Fall „La Belle“

Heute beginnt in Berlin der erste Prozeß wegen des 1986 verübten Anschlags auf die Diskothek „La Belle“. Stasi-Akten belegen die lange umstrittene libysche Urheberschaft.  ■ Von Wolfgang Gast

„From the halls of Montezuma to the shores of Tripoli“ – das singen die Soldaten der US-Marine auch heute noch. Sie spielen in ihrer Hymne auf eine Konfrontation zwischen dem 1801 in Tripolis herrschenden Pascha Jussuf Karamanli und der Flotte der damals gerade erst 25 Jahre alten Vereinigten Staaten an. „To the shores of Tripoli“ wurde 185 Jahre später blutige Wirklichkeit, als der Präsident der Vereinigten Staaten, Ronald Reagan, Teile seiner in Großbritannien und auf Flugzeugträgern im Mittelmeer stationierten Luftstreitmacht aufsteigen ließ und den Befehl erteilte, einen massiven Vergeltungsschlag gegen den libyschen Revolutionsführer Muammar el-Gaddafi zu führen. Weil die US-Regierung in Gaddafi den Drahtzieher für den Bombenanschlag auf eine vorwiegend von schwarzen US-Soldaten besuchte Diskothek in Westberlin zehn Tage zuvor vermutete, bombardierten in den frühen Morgenstunden des 15. April 1986 33 Kampfflugzeuge die Hauptstadt Tripolis und auch die zweitgrößte libysche Stadt Benghazi. Der Angriff dauerte 15 Minuten, dann lagen Flughäfen, Kasernen, aber auch zivile Gebäude in Schutt und Asche. Auch eine Adoptivtochter des Revolutionsführers kam bei der Attacke ums Leben.

Daß Libyen für den Anschlag auf die Westberliner Diskothek „La Belle“ im Stadtbezirk Schöneberg tatsächlich verantwortlich zeichnete, war lange Jahre höchst strittig. Der einzige Beweis, den Reagans Regierung unmittelbar nach dem Anschlag präsentierte, waren zwei vom US-Geheimdienst NSA (National Security Agency) aufgefangene Funksprüche, in denen dem libyschen Volksbüro in Ostberlin zur erfolgreichen Durchführung des Attentates gratuliert worden sein soll. Die libysche Urheberschaft, erklärte Reagan in einer Fernsehansprache, sei „unwiderlegbar“. Überzeugende Belege dafür blieb er aber schuldig.

Der Hergang des Anschlages auf die Diskothek „La Belle“ in der Berliner Hauptstraße 78, bei dem eine türkische Frau und zwei US-Soldaten getötet und mehr als 200 BesucherInnen zum Teil schwer verletzt wurden, ist heute weitgehend geklärt: dank des Untergangs der DDR und der damit einhergegangenen Öffnung der Stasi-Archive. Ein wahrer Geheimdienst-Sumpf tut sich auf, ist doch das Attentat, das den Stasi- Akten zufolge von Mitarbeitern des libyschen Volksbüros geplant und koordiniert wurde, unter den Augen der Staatssicherheit durchgeführt worden. Bis unmittelbar vor der Tat waren die Mächtigen der DDR durch ihren Geheimdienst über die geplanten Aktionen des libyschen Volksbüros in Kenntnis gesetzt – verhindert haben sie sie nicht.

Hauptakteur des Anschlages ist den Akten der Stasi-Hauptabteilung II (Spionageabwehr) zufolge der zum Tatzeitpunkt 28jährige staatenlose Palästinenser Jassir Chraidi. Der Mann, den die Stasi der radikalen palästinensischen Gruppierung PFLP-CG zurechnete, arbeitete unter dem Namen Jussuf Salam für die libysche Botschaft in Ostberlin. Als zweiten Drahtzieher des Anschlages machte die Stasi den Libyer Musbah Abu el-Kassim aus. Musbah (Stasi-Codename „Derwisch“) galt der Stasi als große Nummer im libyschen Geheimdienst. Er soll auch für verschiedene Mordanschläge gegen libysche Kritiker Gaddafis in Europa verantwortlich gewesen sein.

Jassir Chraidi, heißt es in Stasi- Aufzeichnungen, die über zwei Wochen vor dem Anschlag am 19. März angefertigt wurden, habe sich vor kurzem mit anderen Mitarbeitern der Botschaft in Libyen aufgehalten, „um besondere Instruktionen zu empfangen“. Zurück in Ostberlin, hätten sie dann „mit großer Ernsthaftigkeit von der Planung, Vorbereitung und der Realisierung von Vergeltungsschlägen gegen amerikanische Einrichtungen in Westberlin gesprochen“. Die Informationen lieferte eine „zuverlässige Quelle“. Sie brachte weiter in Erfahrung, daß „eine Gruppe bestehend aus drei Personen am 20. 3. 1986 zu amerikanischen Einrichtungen in Westberlin Aufklärungshandlungen vornehmen wird“. Ausgespäht werden sollten unter anderem eine Tankstelle der US-Armee im Stadtteil Zehlendorf, eine vorwiegend von US-Soldaten besuchte Gaststätte in Kreuzberg und ein Drive-in-Imbiß.

Der Informant trug den Decknamen „Alba“. „Alba“ zufolge war unter anderem geplant, ein Sprengstoffattentat auf einen Bus der US-Armee zu verüben, der täglich um sieben Uhr den Checkpoint Charlie in Richtung Westberlin passierte. Die anschließende Flucht, hielten die Stasi-Mitarbeiter in ihren Unterlagen fest, sollte dann unter dem Schutz des diplomatischen Status „mit einem Pkw der libyschen Botschaft in die DDR erfolgen“.

Chraidi und Musbah heuerten Mitstreiter an, unter anderem den in Westberlin studierenden Palästinenser Imad Salim Mahmud und den Libyer Musbah Ali el-Abani, der nach MfS-Angaben als Kurier des Volksbüros arbeitete. Die Terroristen suchten weitere Anschlagsziele aus, die Stasi blieb dank „Alba“ stets auf dem laufenden. Daß ein Anschlag die Diskothek „La Belle“ treffen könnte, war Mielkes Mitarbeitern spätestens am 29. März 1986, also rund eine Woche vor der Bombenexplosion, bekannt. Drei Diskotheken, teilte „Alba“ nach einem Treffen mit den Terroristen am 26. März mit, seien im Visier der Attentäter: Neben dem „La Belle“ könnte sich das Attentat gegen einen Tanzpalast in Zehlendorf und einen in Wilmersdorf richten. Den ausgesuchten Diskotheken war gemeinsam, daß sie „in unmittelbarer Nähe von US-Objekten“ lagen. Den DDR-Behörden wäre es ein leichtes gewesen, Westberliner Stellen einen Tip zu geben. Nach „Albas“ Angaben notierte die Stasi eine Woche vor der Bombenexplosion: „Es gibt die Aussage, daß für einen Anschlag nur die Disko in 1 Berlin 61, Hauptstraße 78, und der Bus in Frage kommen. Von diesen Objekten kann in kurzer Zeit das Territorium der DDR erreicht werden.“

Was wußte der Verfassungsschutz?

Während heute feststeht, daß der Anschlag auf die Diskothek unter den Augen der Stasi geplant und von den DDR-Behörden mehr oder weniger geduldet wurde, ist die Rolle westlicher Geheimdienste noch weitgehend ungeklärt. Bereits im Juli 1990 fand der Spiegel in einem Stasi-Dossier den Hinweis, wonach der amerikanische CIA durch einen Doppelagenten über die Anschlagsvorbereitungen informiert gewesen sein könnte. Der Inoffizielle Mitarbeiter „Alba“, der in Wirklichkeit Ali Channi heißen soll, könnte auch ein V-Mann des CIA gewesen sein, vermutete der Spiegel nach der Lektüre der Stasi-Unterlagen. Damit ließe sich erklären, daß Präsident Reagans hartnäckig behauptete Libyen-Connection beim „La Belle“-Attentat keineswegs so aus der Luft gegriffen war, wie es vielen Beobachtern einschließlich der Westberliner Ermittlungsbehörden erschien.

Mielkes Männer gingen schon im Vorfeld des Anschlages davon aus, daß „Alba“ auch auf einer anderen Gehaltsliste stehen könnte: Bereits Ende März hatte die Truppe um Chraidi und el-Kassim einen ersten Anlauf gemacht, eine Diskothek in die Luft zu sprengen. Zu ihrer Überraschung war jedoch auffällig viel Polizei im Umfeld des Tanzschuppens in Stellung gegangen. Das Vorhaben wurde deshalb verschoben – die Stasi vermutete, daß die Informationen über „Alba“ „abgeflossen“ waren.

Ob „Alba“ tatsächlich ein Informant des amerikanischen Geheimdienstes war, wird sich letztlich nur klären lassen, wenn entsprechende US-Unterlagen an die Öffentlichkeit kommen sollten. Widerlegt ist mittlerweile aber die Vermutung, „Alba“ könnte auch dem Westberliner Verfassungsschutz zu Diensten gewesen sein. Ende 1990 wurde nach einem anonymen Hinweis bekannt, daß auch das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz zur Zeit des „La Belle“-Attentates einen Informanten im Umfeld des libyschen Volksbüros plaziert hatte. Vermutet wurde, daß sich hinter dem Decknamen „Alba“ ein Libyer namens Mohammed Ashur verbarg, der Jahre zuvor schon im libyschen Volksbüro in Bonn tätig war. Mohammed Ashur überlebte den Anschlag auf die Diskothek La Belle nur um drei Wochen. In der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1986 wurde er in einem Auto am Rande des Treptower Parks in Ostberlin erschossen aufgefunden. Die verwendete Waffe gehörte zum registrierten Waffenarsenal der libyschen Vertretung in Ostberlin. Alle Umstände deuteten auf einen Mord im Geheimdienstmilieu hin. Daß „Alba“ aber nicht Ashur sein konnte, ergibt sich heute aus den Stasi-Unterlagen. Die Quelle „Alba“ sprudelte noch im Oktober 1988 und lieferte detaillierte Berichte an die Stasi. Daß Ashur dennoch Informant des Berliner Verfassungsschutzes gewesen sein könnte, wurde bisher vom Landesamt ernsthaft nicht bestritten.

Wegen des Mordes an Ashur wurde Jasser Charadi steckbrieflich gesucht. Dennoch konnte er unmittelbar vor dem Attentat auf die Diskothek – trotz Fahndungsaufruf und polizeilicher Kontrollen– ungehindert die Berliner Sektorengrenze zwischen Ost und West passieren. Der Verfassungsschutz möchte für diese Fahndungspanne nicht verantwortlich gemacht werden. Eingeräumt wird, daß das Berliner Amt von alliierter Seite 1985 den Hinweis bekommen hatte, ein Mitarbeiter des libyschen Volksbüros reise unter dem Namen Jussuf Salam oder Selam in den Westen ein und aus – doch erst im Februar 1986 sei es gelungen, den Decknamen Salam mit Jasser Chraidi in Verbindung zu bringen. Über diese Vermutung sei die Polizei dann umgehend in Kenntnis gesetzt worden. Im April, nach dem US-amerikanischen Vergeltungsschlag gegen Libyen, habe dann ein Mitarbeiter des Amtes schließlich Chraidi in Ostberlin identifizieren können und die Kfz-Nummer des von ihm benutzten Fahrzeugs in Erfahrung gebracht. Recherchen ergaben daraufhin, daß Chraidis Wagen zwischen Januar und April 16mal die innerstädtische Sektorengrenze passierte. Mindestens einmal, wahrscheinlich aber öfter, steuerte Chraidi den Wagen selbst. Daß er dabei nicht festgenommen wurde, wollen sich Verfassungsschützer nicht vorwerfen lassen.