Jubel nach dem Urteil in Los Angeles

Zwei der vier angeklagten weißen Polizisten im Rodney-King-Prozeß verurteilt / Späte Genugtuung und Erleichterung / Die zahlreichen Krisenpläne erwiesen sich als überflüssig  ■ Aus Los Angeles Andrea Böhm

Den entscheidenden Moment, Samstag morgen um sieben Uhr, hat Rodney King verpaßt. Jenen Augenblick, als ein Justizbeamter im sechsten Stock des Bundesgerichtsgebäudes von Los Angeles das Urteil der Geschworenen gegen vier Polizisten verlas; als im Medienraum nebenan die Reporter über Lautsprecher dem Urteil lauschten und jedes Wort per Telefon an ihre TV-Stationen und ein paar Millionen Fernsehzuschauer weitergaben. Wer den Höhepunkt dieses Dramas nicht allein zu Hause verfolgen wollte, war zu den Nachbarn, in die Kirchengemeinde, in den nächsten Coffee- Shop oder vor das Gerichtsgebäude verzogen. Wem die ganze Aufregung zuviel war, der blieb wie King im Bett und verschlief die erlösende Meldung aus dem Gerichtssaal: „Schuldig“ hieß das Urteil gegen den Polizei-Sergeanten Stacey Koon und den Polizeibeamten Lawrence Powell. Dieses Zauberwort schien auf einen Schlag Los Angeles von dem gezielt heraufbeschworenen Alpdruck zu befreien, der Gewaltausbruch des letzten Jahres könnte sich wiederholen.

Am 29. April 1992 hatte eine Jury in Simi Valley, einem weißen Vorort von Los Angeles, die vier Polizisten Stacey Koon, Lawrence Powell, Theodore Briseno und Timothy Wind vom Vorwurf der Körperverletzung gegen Rodney King freigesprochen – und damit faktisch für legitim erklärte, was die ganze Nation zuvor am Bildschirm gesehen hatte: Das Videoband eines Amateurfilmers zeigte, wie die vier weißen Polizisten minutenlang den am Boden liegenden King mit Schlagstöcken, Fußtritten und „Taser Guns“ traktierten und ihm unter anderem schwere Gesichtsverletzungen beibrachten. Während die Angeklagten noch ihren Freispruch feierten, brach im hauptsächlich von Schwarzen und Latinos bewohnten South Central Los Angeles eine der schlimmsten Revolten los, in deren Verlauf 53 Menschen getötet, Tankstellen in Brand gesteckt, Geschäfte geplündert wurden. Während die Beamten des „Los Angeles Police Department“, damals noch unter Führung des höchst umstrittenen Darryl Gates, in den reichen, meist von Weißen bewohnten Stadtteilen patrouillierten, bekamen Geschäftsbesitzer in South Central und Koreatown nur ein Besetztzeichen zu hören, wenn sie den Notruf 911 anwählten. Um die Welt gingen Bilder koreanischer Ladenbesitzer, die auf Plünderer schossen, bis schließlich die Armee in Gestalt der „National Guard“ das wiederherstellte, was manche für Ruhe und Ordnung halten.

Sechs Wochen dauerte nun der zweite Prozeß, sieben Tage lang berieten sich die Geschworenen, unter denen sich im Gegensatz zum Strafverfahren in Simi Valley dieses Mal auch Schwarze befanden. Gegen Ende schien sich die Stadt, angeheizt durch die Medienberichterstattung, zumindest mental in einer Art Ausnahmezustand zu befinden. Dutzende Male konnten die BürgerInnen das Trauma dank einer fast ritualisierten Medienberichterstattung noch einmal durchleben: Rückblenden auf die Ereignisse vor zwölf Monaten wurden durchmischt mit der Beschwörung, der Ausgang im zweiten Prozeß im Fall Rodney King sowie der nahende Jahrestag der Ausschreitungen müßten zwangsläufig zu einem Déjà vu führen.

Doch gleichzeitig löste die Angst vor einer Wiederholung des Wahnsinns auch eine multiethnische Gegenbewegung aus: Ex- Gangmitglieder verteilten 350.000 „Friedensbriefe“ der Kongreßabgeordneten Maxine Waters in South Central; Schulkinder gingen mit Flugblättern auf die Straße; Fernsehstationen wiederum richteten Krisentelefone ein, an denen angst- und streßgeplagte Bürger psychologischen Rat einholen konnten; Bürgerinitiativen gründeten Telefonzentralen „zur Bekämpfung der Gerüchteküche“; über dem Strand von Venice zogen Flugzeuge mit Transparenten „Peace in LA“ ihre Kreise, und Kirchengemeinden hatten Einsatzpläne für Krisenvermittler parat. Als dann am Samstag morgen im Gerichtssaal die beiden Schuldsprüche verlesen wurden, brach in vielen schwarzen Kirchengemeinden Jubel aus – eine Mischung aus später Genugtuung und Erleichterung darüber, daß nun sämtliche Krisenpläne überflüssig geworden waren. Der Freispruch für die beiden anderen Angeklagten geriet darüber fast in Vergessenheit. In Koreatown entspannten sich die Mienen, während Politiker wie Bürgermeister Tom Bradley ein dunkles Kapitel in der Stadtgeschichte beendet sahen. Nun, so Bradley, gehe es an den Wiederaufbau und die Revitalisierung. Etwas volksnaher formulierte es der neue Polizeichef Willie Williams, der zur Zeit in Los Angeles in der Beliebtheitsskala allen Politikern um Längen voraus ist. Auf die Frage, was er den Bürgern nach der Anspannung für den Rest des Tages empfehlen würde, sagt Williams: „Leute, wenn die Sonne rauskommt, geht schwimmen.“

Doch so einfach läßt sich der Schnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht ziehen. Abgesehen von kleinen, nachbarschaftsorientierten Initiativen auf privater Basis ist von einer koordinierten Anstrengung zur Wirtschaftshilfe für die Stadt nichts zu sehen. Mit 10,4 Prozent liegt die Arbeitslosenrate in Los Angeles dreieinhalb Prozent über dem Landesdurchschnitt, in manchen schwarzen Wohnvierteln sind über 50 Prozent der Menschen ohne Arbeit. Die Prozentzahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ist heute größer als 1965, zum Zeitpunkt der Revolte im Schwarzenviertel Watts.

Das Thema Polizeibrutalität ist nach dem Fall Rodney King nicht erledigt. Während die Öffentlichkeit gebannt auf die Ereignisse im Bundesgerichtssaal in Downtown Los Angeles starrte, begann die Staatsanwaltschaft mit Ermittlungen im Todesfall Michael Bryant. Der 37jährige Afroamerikaner war nach einer Verfolgungsjagd von der Polizei festgenommen worden und an den Folgen einer speziellen Fesselung erstickt.