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Wachstum um jeden Preis

Chile hat zwar den Sprung vom Entwicklungsland zum Tiger geschafft, doch auf Kosten von wachsender Armut und Umweltzerstörung  ■ Aus Santiago Astrid Prange

In der Innenstadt von Santiago wimmelt es nur so von Krawatten- und Anzugträgern. Blankpolierte Lederschuhe huschen über den Asphalt, in den Bars und Restaurants übertönen in der Mittagszeit englische Wortfetzen das alltägliche Spanisch. Chile, einst Inbegriff für Diktatur und Folter, mausert sich zum Musterland Lateinamerikas. Zehn Jahre kontinuierliches Wachstum haben, so die angesehene Wirtschaftszeitung Wall Street Journal, aus dem Land hinter den Anden einen „lateinamerikanischen Tiger“ gemacht.

„Chile ist dem Konsumrausch verfallen. Wer etwas nicht hat, ist unzufrieden“, bestätigt Graciela Alvarez. Die Rechtsanwältin, Vorsitzende des Solidaritätskomitees für Erich Honecker, verbrachte 16 Jahre im Exil in Venezuela. Nach ihrer Rückkehr vor drei Jahren erkannte sie ihr eigenes Land nicht mehr. „Ohne die Diktatur wäre die Einführung des exportorientierten Kapitalismus unmöglich gewesen“, kritisiert die überzeugte Sozialistin.

Ein chilenischer Gastarbeiter, der seit fünf Jahren bei Volvo in Schweden am Fließband steht, begegnet dem chilenischen Wunder ebenfalls skeptisch. Die offiziellen vier Prozent Arbeitslosigkeit stimmten nicht mit der Realität überein, denn ein Drittel der Bevölkerung verdiene sein Geld im sogenannten informellen Sektor der Wirtschaft. Doch „immerhin hat sich die Situation verbessert, die Leute haben mehr Geld“, räumt der Exilchilene ein.

Die offiziellen Zahlen des chilenischen Wirtschaftswachstums sind wahrhaftig beeindruckend: Im vergangenen Jahr stieg das Bruttosozialprodukt des Andenlandes um 10,4 Prozent auf knapp 40 Milliarden US-Dollar – die höchste Rate seit 27 Jahren. Einen besonderen Boom verzeichnete der Handel, er nahm im vergangenen Jahr gegenüber 1991 sogar um 14 Prozent zu.

Für den Aufschwung im Handel ist in erster Linie die gesteigerte Binnennachfrage verantwortlich. Das jährliche Durchschnittseinkommen der ChilenInnen überschritt 1992 erstmals die 3.000-Dollar-Marke. Dies führte unter anderem dazu, daß in den letzten zwölf Monaten 30 Prozent mehr Waren nach Chile eingeführt wurden und die stets positive Handelsbilanz im Februar zum ersten Mal ein Minus auf chilenischer Seite verzeichnete. „Chile verfügt über keinen besonderen Standortvorteil, es hat sich lediglich für das richtige Wirtschaftsmodell entschieden“, beneidet der brasilianische Bankier Igor Cornelson seine Nachbarn. Während sich Brasilien mit monatlichen Inflationsraten von knapp 30 Prozent, einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts und zunehmender Verarmung der Bevölkerung herumschlägt, gelang es Chile im vergangenen Jahr, die Geldentwertung auf 12,7 Prozent herunterzudrücken.

Im Gegensatz zu dem tropischen Riesenreich Brasilien fließt ausländisches Kapital reichlich nach Santiago. Im letzten Jahr waren es allein 1,38 Milliarden US- Dollar. Die chilenische Zentralbank befürchtet mittlerweile schon eine Überbewertung des Pesos. Gerade dies würde aber die Konkurrenzfähigkeit der chilenischen Exportwaren, Rückgrat des wirtschaftlichen Erfolges, erheblich beeinträchtigen.

Chilenischen Unternehmern hat der Erfolg den Kopf verdreht. Anläßlich des dritten Jahrestages des Amtsantritts der chilenischen Regierung Mitte März drängten sie Präsident Patricio Aylwin, die damals vorübergehend erhöhten Steuern wieder zu senken. Es sei unverantwortlich, dem Fiskus einen Blankoscheck auszustellen, der Staat solle seine Ausgaben gefälligst mit der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen bestreiten, wetterte der Vorsitzende der chilenischen Handelskammer, Juan Carlos Delano.

Die Forderungen der Unternehmerlobby gingen selbst dem gemäßigten chilenischen Finanzminister Alejandro Foxley zu weit. „In den Vereinigten Staaten, wo das jährliche Pro-Kopf-Einkommen bei 25.000 Dollar liegt, wird die Notwendigkeit erwogen, die Gewinne der Unternehmen mit 36 statt bisher 32 Prozent zu besteuern“, verteidigt sich Foxley. Es wäre unverfroren, zu behaupten, die Chilenen hätten ihre sozialen Probleme besser im Griff als die USA.

Doch selbst wenn das chilenische Parlament die Steuern auf ihrem bisherigen Niveau festschreiben sollte, gehört Chile immer noch weltweit zu den Ländern mit den niedrigsten Steuersätzen. Der Höchstsatz für Spitzenverdiener liegt bei 30 Prozent, von den Unternehmensgewinnen knapst sich der Staat gerade einmal 15 Prozent ab. Und Arbeiter und Angestellte müssen ihre Renten- und Krankenversicherung ohne Hilfe der Arbeitgeber bestreiten.

Die Hauptsteuerlast trägt also die Allgemeinheit. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, zahlt jede ChilenIn beim Erwerb von Produkten oder Dienstleistungen automatisch 18 Prozent Mehrwertsteuer. Doch damit nicht genug. Weder mit starken Gewerkschaften noch mit komplizierten Tarifverträgen müssen sich die UnternehmerInnen in Chile herumschlagen. Für die ArbeiterInnen hinter den Anden gilt die 48-Stunden- Woche bei einem gesetzlich festgelegten Mindestlohn von 120 US- Dollar. Nationale Tarifabschlüsse für ganze Berufsgruppen, zum Beispiel Metall, sind nicht erlaubt.

Ausländische Konzerne lockt die chilenische Regierung zudem mit einem einheitlichen, extrem niedrigen Importzoll von elf Prozent ins Land. Zum Vergleich: Nachbarland Brasilien, ebenfalls um eine verstärkte Marktöffnung bemüht, hat jüngst die Importsteuer für Autos von 40 auf 35 Prozent herabgesetzt. Und noch einen entscheidenden Standortvorteil aus Unternehmersicht bietet Chile: Umweltschutz ist freiwillig, eine Umweltgesetzgebung gibt es nicht.

„Chile zerstört systematisch seine Umwelt, obwohl der Erfolg des Exportmodells von seinen natürlichen Ressourcen abhängt“, ereifert sich Victor Banez. Der 26jährige Umweltschützer aus Santiago fährt täglich 15 Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit. Gegen die Luftverschmutzung des dichten Verkehrs schützt er sich provokativ mit einer Gasmaske.

Der Smog in der chilenischen Hauptstadt ist nur eines von den vielen Umweltproblemen, die dem schmalen Land zwischen Pazifik und Anden zu schaffen machen. Die Förderung von Monokulturen für chilenische Exportschlager wie Wein, Tafeltrauben und Äpfel haben zur Überdüngung und Erosion der Böden geführt. Erschwerend kommt hinzu, daß in Chile ohnehin nur ein gutes Drittel der Böden landwirtschaftlich nutzbar ist. Auf dem Rest, den ausgedehnten Wüstenflächen im Norden sowie der Andenkette, die zwei Drittel der Landesfläche ausmachen, läßt sich nichts ernten.

Besonders gravierend ist die Verseuchung von Flüssen und der Küstenregion. 90 Prozent aller Abwässer, ob aus industriellen Anlagen oder privaten Haushalten, fließen in Chile ungeklärt in die Natur. Giftige Abfälle von Kupferminen, Zellulosefabriken, Erdölraffinerien und der Fischmehlindustrie, dazu gehören unter anderem Blei, Quecksilber, Kadmium, Chrom, Zink und Arsen, haben mittlerweile ganze Küstenstreifen verseucht.

Die Einleitung hochgiftiger Abwässer in die Flüsse und damit letztendlich in den Pazifik bedroht nicht nur die Gesundheit des chilenischen Volkes. Die Millionen Tonnen von Schwermetall zum Beispiel, die von den Kupferminen Potrerillos und El Salvador in die Bucht von Chanaral im Norden Chiles gepumpt wurden, haben zum völligen Verschwinden der Meeresfauna in der Region geführt.

Die Wasserverschmutzung und die damit einhergehende Zerstörung der Meeresfauna der Pazifikküste wiederum wirken sich negativ auf die Fischbestände aus. Um weiterhin die fünftgrößte Fischexportnation der Welt zu sein, kehren die chilenischen Fangflotten dem industrialisierten Norden zunehmend den Rücken zu und weichen in die kühleren Gewässer des Südens aus. Doch auch dort ist die Ausbeute aufgrund der hemmungslosen Überfischung inzwischen stark zurückgegangen.

Tragischerweise stillen zwei Drittel der 6,4 Millionen Tonnen Fisch aus Chile nicht nur den menschlichen Hunger, sondern werden auch zu Fischmehl für europäische Rinder und Schweine verarbeitet. „Die Industrienationen, etwa ein Drittel der Erdbevölkerung, verbrauchen über die Hälfte der weltweiten Fischerzeugnisse“, bilanziert Juan Carlos Cardenas, Koordinator der Greenpeace-Pazifik-Kampagne in Lateinamerika. Dabei würde gerade die hochwertige eiweißreiche Nahrung in den Entwicklungsländern gebraucht. Zur Zeit jedoch können viele Chilenen von einem zarten, weißen Fischfilet nur träumen, denn es ist zu teuer. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben etwa fünf der insgesamt 13 Millionen ChilenInnen in bitterer Armut. Von dem Wirtschaftsboom, auf den die Herren mit den Krawatten im Zentrum von Santiago so stolz sind, haben sie noch nichts mitbekommen.

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