Der Apparat prägt seine Reformer

Gewerkschaftliche Reformdiskussion verharrt auf dem Niveau vor der Wende  ■ Von Martin Kempe

Hattingen (taz) – Während in Ostdeutschland eine Warnstreikwelle nach der anderen über die Metall- und Stahlbetriebe hinwegrollt und die Menschen sich zu Tausenden auf den Marktplätzen und vor den Werkstoren versammeln, um gegen den Tarifbruch der Arbeitgeber zu protestieren, fand am Wochenende in der DGB- Bundesschule Hattingen (Ruhr) eine neue Runde der innergewerkschaftlichen Reformdiskussion statt. Weit liegen die Welten auseinander zwischen jener gewerkschaftlich mobilisierten Protestbewegung und dem nun schon seit Jahren immer wiederholten Ruf gewerkschaftlicher Reformer nach mehr Öffnung, mehr Beteiligung der Mitglieder, mehr innerorganisatorischer Demokratie.

Das Thema „Gewerkschaften und Demokratie“ hatte sich jene Gruppe gewerkschaftsnaher Sozialwissenschaftler vorgenommen, die seit Jahren die Forums-Veranstaltungen in der Hattinger DGB- Bundesschule gestaltet. Was herausgekommen ist, war ein dünner Aufguß alter innergewerkschaftlicher Reformdiskussionen, wie sie seit Mitte der 80er Jahre – noch in der alten Bundesrepublik – geführt wurden: wohlmeinende Empfehlungen an den gewerkschaftlichen Apparat und die sinkende Zahl aktiver Mitglieder, die innergewerkschaftlichen Umgangsformen endlich den modernen demokratischen Standards anzupassen, sich den Themen der Ökologiebewegung, der Frauenbewegung usw. zu öffnen und selbstbewußte Individualität der Mitglieder nicht als Feindseligkeit, sondern als Chance und Ausgangspunkt neuer Solidarität zu begreifen.

Inhaltlich also kaum ein neuer Gedanke. Nur die Terminologie hat sich geringfügig fortentwickelt: auf der diesjährigen Frühjahrstagung des „Hattinger Forums“ war zu verzeichnen, daß der bei Sozialwissenschaftlern so beliebte Terminus „Zivilgesellschaft“ als Kennzeichnung einer staats- und autoritätsfreien gesellschaftlichen Selbsttätigkeit nun auch bei den Gewerkschaften angekommen ist. Er wurde vom Frankfurter Sozialwissenschaftler Helmut Rödel ins Spiel gebracht, der in den Gewerkschaften ein klassisches Beispiel für eine zivilgesellschaftliche Bewegung sieht und den Streik zur historisch ersten Form des zivilen Ungehorsams erklärte.

Eine Diskussion über das, was heute in Deutschland eigentlich die „soziale Frage“ ist und welche politischen Sprengkräfte für die Gewerkschaften und die demokratische Substanz der Gesellschaft darin enhalten sind, fand kaum statt. Business as usual in der Diskussion um die Gewerkschaftsreform, während sich in den gewerkschaftlichen Apparaten auf Grund des krisenbedingten Mitgliederschwunds in Ost und West Katastrophenstimmung ausbreitet und in Ostdeutschland eines der zentralen Gestaltungsinstrumente bisheriger gewerkschaftlicher Politik, der branchenbezogene Flächentarifvertrag, auf dem Spiel steht. Was heute im Zentrum der sozialen Problematik in Deutschland steht und deshalb auch im Zentrum aktueller gewerkschaftlicher Zukunftsdiskussionen stehen müßte, die soziale Spaltung der bundesdeutschen Gesellschaft in Ost und West, wurde in eine von fünf Arbeitsgruppen verbannt. Und das auch noch mit der leidigen Frage nach der Notwendigkeit des Teilens, die stereotyp bei der leicht verifizierbaren Feststellung endet, daß die westdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus guten und schlechten Gründen eben nicht zum Teilen bereit sind und die Gewerkschaften bei ihrer westdeutschen Basis Kopf und Kragen riskieren, wenn sie allzu lautstark nach Solidaritätsopfern rufen.

Es gibt offenbar eine doppelte Stagnation: jene der gewerkschaftlichen Apparate, die sich bei aller Gutwilligkeit vieler engagierter Funktionäre unendlich schwer mit der Modernisierung ihrer Verkehrs- und Politikformen tun, und eine Stagnation der gewerkschaftlichen Reformer aus dem linksintellektuellen Umfeld der Gewerkschaften, die die gewerkschaftliche Zukunftsdiskussion heute nicht viel anders führen als vor der Wende 1989. Natürlich müssen die Reformer auch nach der Wende darauf beharren, daß Ökologie und Geschlechterproblematik keine Randprobleme sein dürfen. Aber genauso richtig ist, daß es die relativ gesättigte Wohlstandsinsel Westdeutschland nicht mehr gibt und jene von der gesellschaftskritischen Linken immer beschworene Gefahr der Zwei-Drittel-Gesellschaft in Gesamtdeutschland keine drohende Zukunftsperspektive mehr ist, sondern aktuelle Gegenwart.

Statt gesellschaftspolitischer Analyse, statt des Bemühens um Annäherung an eine radikal veränderte soziale Realität im vereinten Deutschland die Diskussion darüber, ob der vielbeschäftigte westdeutsche DGB-Funktionär nun sämtliche ihm angetragenen Beteiligungsmöglichkeiten „von der AOK bis zum Bundesgefrierfleischausschuß“ (so der ironische Titel einer Arbeitsgruppe) wahrnehmen muß. Ob die ostdeutschen Metaller sich darüber auch schon Gedanken gemacht haben?