Ein Produkt, 16 Jahre alt

■ Keine neuen Tendenzen in Sicht bei den Weltmeisterschaften: Die verblichene UdSSR beherrscht das Männerturnen und die "Frauen" werden nicht größer

Birmingham (taz) – Vitali Scherbo und Shannon Miller hamsterten am fleißigsten. Drei Gold- und eine Silbermedaille gewann der Weißrusse, dreimal Gold holte sich die US-Amerikanerin. Doch da hören die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden überragenden SportlerInnen der Turnweltmeisterschaften in Birmingham auch schon auf. Welten liegen zwischen ihnen, nicht nur ein halber Meter Größenunterschied und eine Altersdifferenz von einem halben Jahrzehnt.

Scherbo ist ein Ausnahmeathlet, der seine Medaillen fast im Handumdrehen mit nach Hause nehmen durfte. Mit sechs Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen in Barcelona hat er sich längst ein Denkmal gesetzt. Seitdem wurde er von einem Schauturnen zum nächsten weitergereicht. Über 50 solcher Veranstaltungen, die ihm allesamt dicke Scheine bescherten, füllten seinen Terminkalender. Doch das Training litt noch unter anderen Vorkommnissen. Er kaufte sich ein Auto, das schon am nächsten Tag gestohlen wurde. Die Meldung bei der Minsker Polizei kostete wieder Trainingseinheiten. Der Weltmeister kam fast untrainiert zum Wettkampf.

Ein Symptom, daß demnächst der langerwartete Einbruch in die Turn-Vorherrschaft der ehemaligen Sowjetunion erfolgt, ist das aber noch lange nicht. Scherbo, der die sowjetische Grundschule wie seine jetzigen und ehemaligen Teamgefährten in den Knochen hat, ist ein Wettkampftyp. Hochkonzentriert im rechten Moment, immer bereit zu vollem Risiko. Scherbo ist zwar nicht repräsentativ, aber dafür ackern die anderen um so mehr für ihre neuen Heimatrepubliken. Von acht Finalteilnehmern am Barren kamen sieben aus der ehemaligen UdSSR.

Zwar tanzte Scherbo bei der Abschiedsparty in Birmingham mit Bier in der Rechten und Zigarette in der Linken, doch ihm wird aufgefallen sein, daß seine Krone wackelt, wenn er weiter die Zügel schleifen läßt, denn zu groß ist der Druck aus dem eigenen Lager. Und wer von den Top Turnern aus der Ukraine oder Rußland keinen Platz im eigenen Team mehr bekommt, meldet sich kurzerhand bei einem kleineren Verband, wie zum Beispiel Valeri Ljukin, der zwar in den USA lebt, aber für Kasachstan an die Geräte ging. Und ein wenig Wind kam mit dem Berliner Andreas Wecker auch aus dem Westen. Der kam bei seinem dritten Platz im Mehrkampf Scherbo immerhin nahe. Das macht zumindest das Männerturnen im Moment interessant.

Was man von den Frauen nicht behaupten kann. Zwar bekam auch Shannon Miller ihren Applaus, aber ein ungutes Gefühl schlich sich immer ein, wenn die als Barbie-Puppen getarnten Winzlinge über die Matten tippelten. Man möchte fast Beifall klatschen, weil die nordkoreanischen Turnerinnen von der WM ausgeschlossen wurden. Dabei waren deren Funktionäre nur zu dumm, die Reisepässe der Kinder perfekt zu fälschen. Und hielten zudem auch noch die anderen für so blöde, zu glauben, denen würde nicht auffallen, wenn ein und dieselbe Turnerin bei drei verschiedenen Turnieren mit drei verschiedenen Geburtsdaten antritt.

Doch auch in anderen Ländern gibt es weiterhin obskure Erfolgspraktiken. Die Rumäninnen Gina Gagean, Mehrkampf-Vizeweltmeisterin, und Larinia Milosovici, Siegerin am Balken, sind unfrohe Kinder, die von ihren Trainern noch gnadenlos verprügelt werden, wenn sie deren perverse Erwartungshaltungen nicht erfüllen. Milosovici erzählt, daß die rumänischen Turnerinnen wie zu Ceausescus Zeiten eingesperrt werden und ihre Fenster vernagelt sind.

Doch die neue Entwicklung repräsentiert Weltmeisterin Shannon Miller. Ein „Produkt“, gemacht und so genannt von ihrem Trainer Dave Nunno mit Hilfe zahlungskräftiger Sponsoren und generalstabsmäßiger Planung. Das Produkt soll 16 Jahre alt sein, sieht aus wie zwölf und spricht wie eine Achtjährige. Ihr beliebtestes Statement: „It's exciting!“

Doch überraschend ist diese Entwicklung nicht. Forciert wird sie vom Turnweltverband FIG, der durch seine Bewertungsgrundlagen mehr Artistik und Akrobatik und damit kleinere Körper fordert. Damit die Zwerge auch entsprechend den Wünschen der Erwachsenen funktionieren, wenden die verschiedenen Länder verschiedene Methoden an. Nordkorea bevorzugt die Altersmanipulationen, Rumänien die rohe Gewalt, die USA kapitalistische Planung.

Natürlich gibt es beim Kunstturnen der „Frauen“ auch noch andere Teilnehmerinnen. Doch eine Chance, nach vorne zu kommen, haben sie im Moment nicht. Thomas Schreyer