■ Die westliche Ambivalenz gegenüber der Türkei
: Özal und die Menschenrechte

Die Türkei trauert, und die westlichen Staatschefs trauern mit. Richard von Weizsäcker ist zutiefst bestürzt, François Mitterrand huldigt dem kleinen Atatürk, und Bill Clinton glaubt mit Turgut Özal den Mann verabschieden zu müssen, der die Türkei stark gemacht hat. Telegramme postum mortem sind natürlich in der Regel Unfug – jeder weiß, daß sie mit der Realität nichts gemein haben. Trotzdem schwingt in den westlichen Nachrufen auf den türkischen Staatspräsident Turgut Özal ein Ton mit, der sich vor allem in der Formulierung „Öffnung nach Westen“ manifestiert. Daran ist soviel richtig: Der Mann war mit Haut und Haaren Kapitalist. Özal steigerte das Bruttosozialprodukt, vor allem den Ex- und Import, und hätte am liebsten noch die Regierung privatisiert. In den zehn Jahren, die Özal an der Spitze des türkischen Staates stand – erst als Minister, dann als Staatspräsident – hat er seinen Clan zu einer der reichsten Familien des Landes gemacht. Das haben Mitterrand und Weizsäcker aber wahrscheinlich nicht gemeint.

Tatsächlich war Özals Verhältnis zum Westen höchst ambivalent, und umgekehrt verhielt sich der Westen zur Türkei Turgut Özals rein instrumentell. Özal, der in erster Linie selbst Geld verdienen wollte, setzte in der Türkei einen Kapitalismus pur durch, der auf jede soziale Sicherung für die breite Bevölkerung verzichtete – in diesem Sinne fühlte er sich dem Westen, dabei vor allem den USA Reagans und dem Großbritannien Thatchers, verbunden. Mit den sogenannten „Werten des Westens“ hatte Özal dagegen nichts am Hut. Demokratie war in seinen Augen vor allem ein ärgerlicher unnötiger Zeitaufwand, obwohl Özal zu den Meistern der Manipulation gehörte. Menschenrechte, gedacht als individuelles Rechtsinstitut, waren für ihn eine Erfindung von Leuten, die seine ökonomischen „Erfolge“ diskreditieren wollten.

Özal tat sich bedenkenlos mit den Militärs zusammen, als diese jede kritische Stimme im Lande in die Knäste verbannten, und tat auch nach dem formellen Rückzug der Uniformträger nichts, um Folter und Massenprozesse zu unterbinden. Im Gegenteil: Er erwartete von den Militärs bis zuletzt, daß sie ihm den Rücken für seinen Brachialkapitalismus freihielten. Trotzdem wollte er die EG-Mitgliedschaft für die Türkei. Doch just die, die ihn jetzt wieder als Vorkämpfer des Westens loben, taten alles, um dies zu verhindern. Angeblich der Menschenrechte wegen, tatsächlich aber aus Angst vor der Freizügigkeit und anderen ökonomischen Gründen. Wer immer jetzt als Nachfolger Özals gewählt wird, westliche Kritik an der Menschenrechtspraxis wird wohl erst dann ernst genommen, wenn sie nicht mehr nur als Vorwand benutzt wird. Jürgen Gottschlich