■ Ein amerikanisches Fanal
: Waco, Massada und das Glück

Wer noch die Reeducation braun verkleisterter Kinderhirne zu US-Demokratie-Illusionen erlebte, wird gerne auch des Beitrags Walt Disneys gedenken, der uns staunenden Westeuropäern die Vorzüge der US-Verfassung sinnlich verklickerte: das staatlich geschützte Streben nach jeder Art von Glückseligkeit, und je metaphysischer, desto geschützter. Natürlich war Disneys Evangelist eine Maus, diesfalls die Kirchenmaus Amos, und gemeinsam mit ihrem Partner Benjamin Franklin formulierte sie in „Ben and I“ die Menschen- und Freiheitsrechte der USA. Seltsam, daß einem dieses Filmchen satte 40 Jahre im Hinterkopf spukt. Vielleicht wollten wir vor 25 Jahren auch ein wenig Amos spielen, aber dank Brecht wußten wir: Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Da Brecht in den USA wenig bekannt ist und Disney ein ernstgenommener Kindertraum ... Kann man sich so dem Fanal von Waco nähern? Vielleicht doch und gerade.

Die Hoffnung der USA war stets (und in außenpolitischen Akvititäten ist dies auch uns mühelos nachprüfbar), mit dem Argument der absoluten Religionsfreiheit das wahre Reich Gottes zu sein, God's Own Country. Im Haus des Herrn sind viele Wohnungen, doch sein Dach ist der Staat, gewissermaßen als Überreligion, angefangen beim Fahnenkult. Das erzeugt gewisse Paradoxien. Zwar sind alle Glaubensgemeinschaften (zumindest theoretisch) willkommen, die anderswo mühselig und beladen sind – was sich beim Anschlag auf das World Trade Center wiederum zeigte –, aber im Staat entstandene Sekten sollen doch bitte zuerst dem Staat geben, was seines Gottes ist. Sonst kracht's.

Da sich das Drama der Neodavidianer seit Februar dahinzog, war Zeit genug, in den Archiven nachzulesen, was über diese obskure Sekte bekannt ist. Sie gehört zu den Knollengewächsen der Flower-Power-Zeit. Ihr Credo wurde 1967 in San Francisco formuliert, von einem Rauschebart, der bald darauf an seiner eigenen Diät verschied. Was dem Glauben keinen Abbruch tat, vor allem, als 1979 ein Versicherungsverkäufer zum Späthippie mutierte und sich als Messias erkannte. David Koresh, wie er sich nach der biblischen Rotte Korah nun nannte, brachte Drive in die Sache, und nach einigen Predigten konnte man sich 1984 den Traum vom Reich Gottes auf Erden auch verwirklichen: Auf einer billig erworbenen Farm bei Waco siedelte der harte Kern der Gläubigen, etwa ein Viertel der gesamten Religion, und in den englischsprechenden Ländern verstreute Proselyten finanzierten das Ganze. Missioniert wurde kaum – anscheinend reichten Herrn Koresh zweitausend Jünger.

Was hat den Staat daran so gereizt? Daß immer wieder einmal der Weltuntergang gepredigt wurde, kann es kaum gewesen sein. Daß keine Bluttransfusionen verabreicht werden durften und kein Gläubiger zum Militär sollte? Das war von den Zeugen Jehovas abgekupfert, und die gibt's ja auch. Angebliche Gewalt gegen Kinder? So was gehört wohl zu manchen Sekten und ist von der Colonia Dignidad, beispielsweise, so bekannt, daß wir uns nur über die lahme Gangart unserer Bundesregierung wundern dürfen. Daß die Kleinen der Farm nicht per Schulbus zu den öffentlichen Schulen gebracht wurden? Das jedenfalls gibt das FBI als Grund für die lange Belagerung und ihr katastrophales Ende an, und für den Ernst dieses Argumentes mag auch sprechen, daß zum Showdown zwar ein Schulbus mitgebracht wurde, aber keine Feuerwehr. Die mußte erst aus zehn Meilen Entfernung herbeigerufen werden, als es nichts mehr zu löschen gab.

Nun ist bislang kein Fall bekannt, daß FBI-Panzer in Slums auffuhren, um dort die Jugend zu alphabetisieren, und es fehlt uns auch an Hinweisen, daß in den USA die Schulpflicht je nur viertelwegs so ernst genommen wurde. Andererseits wurde von Anfang der Belagerung an die große Gefahr eines Massenselbstmords betont. Solche Drohungen sind bei Sekten ernst zu nehmen, spätestens seit Jonestown, wo das dringende Bedürfnis eines US-Botschaftsangehörigen, seine Tochter aus den Klauen der Sekte zu befreien, in einer Katastrophe endete. Aber auch da war, bis auf die „Entgleisung einer Sekte“ (so damals die Washington Post), alles Rechtens: Das verfassungsmäßige Recht eines Vaters mußte, wie es in der Verfassung heißt, um jeden Preis durchgesetzt werden. Diesmal war es ein Vater aus Newark, der seinen 22jährigen Sohn vom FBI retourniert haben wollte (seine Leiche konnte in den Trümmern noch nicht identifiziert werden). Und, damit die Sache etwas runder wurde: mangelnder Schulbesuch und vermuteter Mißbrauch von Kindern. Für letzteres wird es nun keine Zeugen geben.

Nein, so einfach ist der Wahnsinn nicht zu erklären. Wir im fernen Europa verfolgten das Drama gewissermaßen im Foyer, während die texanischen Medien die Beleuchtung tätigten. „FBI greift David an“, verkündete USA Today Mitte Februar. Als das FBI das „Allerheiligste“ der Sekte stürmen wollte und bei der dann unvermeidlichen Schießerei vier Beamte starben, fragte CNN: „Goliath geschlagen?“ Koreshs darauf konzedierter Fernsehauftritt brachte 48 Prozent Einschaltquote und seither täglich Meldungen der Art: „FBI zahnlos“, „Wie lange noch?“, „David Koresh narrt den Staat“, und zum Osterfest forderte selbst die betuliche New York Times: „Finish them up“. Die entlegene Farm bei Waco wurde das Zentralproblem der USA; noch vor den Prügelbullen von Los Angeles, und mit zunehmender Häme wie Empörung wurde die Vorführung des FBI verfolgt. Das konnte nicht gutgehen.

Der Tag für die „Operation Goliath“, so nannte sie noch am Morgen der FBI-Sprecher, war fein und symbolträchtig gewählt: Massada-Day. Angeblich an diesem Tag im Jahr 72 begingen alle von den Römern Belagerten in einer hebräischen Festung Selbstmord, um nicht geschlagen zu werden. Massada ist heute eine Art israelisches Nationalheiligtum, und dieser Tag war vor 50 Jahren auch Stichtag für den Aufstand im Warschauer Ghetto. Wenn – laut Morgennachrichten – niemand beim FBI und im US-Justizministerium diese Symbolkraft bedacht haben will, von den Neodavidianern hätte man derlei doch vermuten dürfen. Oder hat man es sogar vermutet? Und das Ende auch ein kleines bißchen gewollt?

„Wir pumpen sie jetzt langsam mit Gas voll“, sagte der FBI-Sprecher vor Ort, zehn Minuten, ehe die Flammen waberten, und angesichts der Rauchsäulen: „Damit haben wir nicht gerechnet.“ Wirklich nicht?

Ach ja: Mitten im Inferno flatterte auf dem Dach der Farm noch die US-Flagge, mediengerecht. „Sie weht für die Freiheit aller Individuen und aller Glaubensformen“, hatte Clinton zu seiner Amtseinführung gesagt. Vielleicht hatten das die Davidianer auch geglaubt. Sie wären nicht die ersten gewesen. Auf jedem Schein, der über den Ladentisch gereicht wird, steht auch: „In God We Trust“. Man sollte das nicht so ernst nehmen. Gott ist weit. Natürlich fragen jetzt auch die Reporter, die das Feuer anblasen halfen, ob man's denn wirklich so weit hätte treiben sollen – laut schneller Meinungsumfragen sind 56 Prozent der US- Bürger dafür –, und das ist's denn auch. Die Sekte fiel auf, und der Staat mußte seinen katholischen Anspruch verteidigen. Bei allem Gerede über Religionsfreiheit: Sobald eine Sekte in die Schlagzeilen kommt, muß der Staat beweisen: Du sollst keinen Gott haben neben mir. Hans-Georg Behr

Fachjournalist und Autor („Weltmacht Droge“), lebt in Hamburg