: Eine Generation will Geschichte machen
Der ungarische „Verband Junger Demokraten“ Fidesz hat sich aus einem vorrevolutionären Aktionisten-Verein zur populärsten Partei des Landes gewandelt ■ Aus Debrecen Keno Verseck
Jugendliche Rebellen werden zu Verantwortungsträgern eines demokratischen Staates. Der ungarische „Verband Junger Demokraten“, kurz „Fidesz“, Ende März 1988 als erste unabhängige politische Organisation unter den Kommunisten gegründet, hat diesen Weg in kurzer Zeit zurückgelegt. Am vergangenen Wochenende zog die kleinste parlamentarische Oppositionspartei auf ihrem Fünften Kongreß den formalen Schlußstrich unter diese Entwicklung.
Der Fidesz verabschiedete sich unter anderem vom Modell der kollektiven Führung und hob die Altersgrenze für Mitglieder (35 Jahre) auf. Zum Parteivorsitzenden wählten die Delegierten mit mehr als drei Viertel der Stimmen den schon lange unbestrittenen Anführer der Jungdemokraten, Viktor Orbán. Er bestimmte in seiner programmatischen Rede noch einmal die Richtung des Zentrums, die die Jungdemokraten nicht verlassen dürften: „Liberal, gemäßigt und der Nation verpflichtet“.
Dabei boten die Delegierten der seit zwei Jahren populärsten Partei des Landes an ihrem Tagungsort in der ostungarischen Stadt Debrecen den gewohnt ungewöhnlichen Anblick: lange Mähnen in friedlicher Koexistenz mit artig gescheitelten Nackenschnitten, ausgewaschene Jeans neben Nadelstreifenanzügen, das Ganze in zumeist zielstrebiger Teamwork-Atmosphäre. „Wir versuchen, unsere Ideale aufzugeben und unsere Prinzipien zu behalten“, beschreibt Viktor Orbán Stil und Taktik der Jungdemokraten. Der 29jährige hat gute Aussichten, nach den Parlamentswahlen im nächsten Frühjahr Regierungschef Ungarns zu werden.
Noch vor nicht allzu langer Zeit schien das außerhalb des Möglichen zu liegen: Vor 1989 hatte sich der Fidesz den Ruf eines radikaldemokratischen Aktionisten-Vereins erworben. Doch nachdem die ungarischen Kommunisten in die Übergabe der Macht eingewilligt hatten, legten sich die Jungdemokraten schnell das Image einer wählbaren Partei zu. Dem geschickten Taktieren zwischen den großen Wahlfavoriten hatten sie es zu verdanken, daß sie im März 1990 8,9 Prozent der Stimmen erhielten und mit 22 Abgeordneten ins Parlament einzogen.
Nur sechs Monate nach den Parlamentswahlen stimmten bei den Kommunalwahlen bereits 20 Prozent der Wähler für den Fidesz, der heute in einer Reihe von ungarischen Städten Bürgermeister und Stadträte stellt.
Tatsächlich kommt den Jungdemokraten noch immer die weitgehende Konzeptlosigkeit der vom Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) angeführten Regierungskoalition und die tiefe Zerstrittenheit der größten Oppositionspartei Bund Freier Demokraten (SZDSZ) zugute. Die Ungarn können seit langem am Bildschirm verfolgen, wie sich die beiden großen Parteien im Parlament in ideologische Debatten verstricken, derweil die Inflation nur mäßig abnimmt und die Arbeitslosigkeit rapide ansteigt.
Die Jungdemokraten werden dagegen als „pragmatische Truppe“ dargestellt, die unermüdlich an pragmatischen Konzepten arbeitet. Ihre führenden Köpfe vermeiden unverständliche Polemiken, halten dennoch pointierte Reden und verkörpern den unbedingten Willen zur Zukunft.
Natürlich gibt es aber auch im Fidesz innerparteiliche Auseinandersetzungen. Doch wirken sich diese häufig vorteilhaft für die Jungdemokraten aus, so etwa der Gegensatz zwischen Orbán und dem zweiten Mann in der Partei, Gábor Fodor. Ist ersterer zweifellos der Schrittmacher, so verkörpert Fodor, der sich durch seinen Einsatz für Menschenrechte und Minderheiten einen Namen gemacht hat, das Gewissen der Partei. Und während Orbán die Partei für neue Wählerschichten attraktiv macht, hält Fodor einen Teil der alten Basis bei der Stange. „Orbán ist in seiner Strategie manchmal zu pragmatisch, in seinem Stil zu rigide“, meint der besonnene Fodor, „und ich verstehe vielleicht immer alles zu sehr.“
Ein Viertel der Wähler würde derzeit für den Fidesz stimmen, während alle anderen Parteien, einschließlich des regierenden MDF, in Umfragen unter die Zehn-Prozent-Marke gefallen sind. Eines wissen allerdings auch die Jungdemokraten: Mit den Sympathiebekundungen für ein Expertenteam allein läßt sich noch nicht Regierungspartei werden. Zwischen Orbán und einer Reihe seiner Fraktionskollegen einerseits und einem beträchtlichen Teil des Parteikorps andererseits klafft ein sichtbarer Unterschied – der zwischen populären Politikern und blassen Technokraten.
Der Fidesz steht andererseits vor dem Dilemma, den Ungarn nach allen Enttäuschungen des Postkommunismus zu erklären, wie ihr klassisches liberales Wirtschaftskonzept die soziale Situation in absehbarer Zeit verbessert. Die Jungdemokraten setzen auf schnelles Wirtschaftswachstum, wobei sie den „Kuchen nicht anders als bisher aufteilen, sondern ihn schlicht vergrößern“ wollen. Die Mittel dazu: eine Entlastung der Unternehmer durch Steuersenkungen, verstärkte Auslandsinvestitionen und eine schnellere Privatisierung.
Neben dem bemerkenswert gut durchdachten Wirtschaftsprogramm legt der Fidesz seinen zweiten Schwerpunkt auf einen radikalen Wandel des Bildungssystems, ohne den es „keine neue Generation geben wird, die fähig wäre, sich Europa anzuschließen“ (Orbán). In der Außenpolitik streben die Jungdemokraten neben dem Beitritt zur EG entspannte Beziehungen zu Ungarns Nachbarländern an – ein Vorhaben von historischer Tragweite.
Das vielleicht größte politische Kapital der Jungdemokraten liegt in ihrer Unbelecktheit von historisch-nationalen Komplexen, die die ungarische Politlandschaft durchziehen. Während die Fronten zwischen und in Parteien nicht selten entlang des alten ungarischen Gegensatzpaares Urbanisten–Populisten verlaufen, hat der Fidesz als einzige Partei nicht die gravierenden Unterschiede zwischen ländlicher und großstädtischer Mitglieds- und Wählerbasis vorzuweisen.
Angesichts dessen lag es nicht fern, daß Orbán in Debrecen große Worte gebrauchte. Man könne nie wissen, welche Generation ein Kapitel im Geschichtsbuch werde und welche nur eine Fußnote, so der Parteichef vor seiner Wahl. Wer aber vor der Verantwortung zurückschrecke, könne keine Geschichte schreiben. Viktor Orbán rief die Delegierten auf, nicht zurückzuschrecken.
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