Heilpraktischer Common sense

„Lorenzos Öl“ – ein homöopathischer Film um eine wahre Begebenheit  ■ Von Christof Boy

Von oben, engelsgleich, blickt die Kamera auf das Ehepaar Odone. Erst sind sie winzig klein, verloren in der Schar der Messe- Besucher. Dann springt die Kamera heran, und auf den Gesichtszügen von Nick Nolte und Susan Sarandon beginnt sich unter den leidvollen Blicken der besorgten Eltern ein zweites Gesicht abzuzeichnen: die Kraft der zwei Herzen, die einsam gegen die Macht des Faktischen ankämpfen. Gegen die Ärzte. Gegen die bisherigen Erkenntnisse über die tödliche Krankheit ihres Kindes. Gegen die Uhr. Denn der Zustand des Jungen verschlechtert sich von Tag zu Tag.

„Lorenzos Öl“ will mehr sein als ein Film über einen dramatischen Krankheitsverlauf. Regisseur Georg Miller, selbst ausgebildeter Mediziner, will am guten Leumund der Götter in Weiß rütteln. „Lorenzos Öl“ setzt die Serie von Filmen fort, die zwecks päd. Erbauung Krankheitsgeschichten erzählen. Nach „Rainman“ oder „Awakening“ reicht aber nicht mehr allein die Mitleidsmasche. George Miller schnürt gleich ein ganzes Bündel ehrenwerter Absichten. Die Zeit der Eigeninitiative. Den Common Sense. Die Entdeckung altruistischer Motive. Denn als Michaela und Augusto Odone damit beginnen, sich nach eigenen Wegen zur Heilung ihres Sohnes umzusehen, ist es für Lorenzo so gut wie zu spät. Der Fortschritt der Krankheit läßt sich allenfalls aufhalten. Die Hilfe kommt aber anderen Kindern zugute, die ebenfalls die genetisch bedingte Krankheit geerbt haben – die Odones forschen also für das Common Good.

Der fünfjährige Lorenzo leidet an der seltenen und als unheilbar geltenden Krankheit Adrenolenkodystrophie. Sie bewirkt, daß sich die Fettschicht an den Nervensträngen aufzulösen beginnt und schrittweise zu ersten Fehlfunktionen des Nervensystems führt, die nach qualvollen Lähmungserscheinungen schließlich zum Tod des Patienten führen. Bei Nachforschungen in der medizinischen Nationalbibliothek stellen die Odones fest, daß die Forscher weltweit vollkommen isoliert voneinander arbeiten. Das Ehepaar organisiert ein Expertensymposium – ein erster Fortschritt, denn mit einer bestimmten Ölsäure könnte es möglich sein, den Verlauf der Krankheit zu stoppen. Entgegen dem Rat des Hausarztes testen die Odones verschiedene Öle und stoßen schließlich auf eines, das als Diätikum geeignet sein könnte. Wieder raten die Ärzte ab, denn das Öl steht im Verdacht, in Spanien eine Massenvergiftung ausgelöst zu haben, bei der 200 Menschen starben. Gegen den Widerstand der Medizin lassen die Odones das entsprechende Öl destillieren und verabreichen es Lorenzo. Die Krankheit kann gebremst werden; bei anderen Kindern mit Symptomen im Frühstadium kommt sie erst gar nicht zum Ausbruch. Die Odones haben gesiegt – gegen eine Wissenschaft, die auf etwas beharrt, was sie noch gar nicht erforscht hat.

Doch mit jedem Stoß, den Miller dem Elfenbeinturm der Wissenschaft versetzt, baut er einen neuen Glauben auf. Auf dem Altar der Wissenschaft wird die Religion des Positiven geopfert und sofort durch die des Zweifels ersetzt. Schön amerikanisch gilt der Laienverstand, der Common sense, hier mehr als der anonyme Sachverstand, der kalte Intellekt. Denn das Ziel ist dasselbe: Succuss um jeden Preis. Zum Schluß steht Nick Nolte vor dem von ihm und seiner Frau geschaffenen medizinischen Durchbruch und staunt über den Akt seiner Schöpfung. Voller Stolz vergleicht er diese Leistung mit dem „Manhattan Project“, jener unglücklichen Gemeinschaft gläubiger Forscher, die die Vereinigten Staaten in nur 28 Monaten zur Atommacht werden ließ und das Grauen von Nagasaki und Hiroshima ermöglichten.

George Miller: „Lorenzos Öl“. Mit Susan Sarandon, Nick Nolte, Peter Ustinov u.a.