Hauptstadtmusik
: Abgezogen vom Auswendigen: Musik Open Air

■ Von Elstern und anderen Profis, oder: wie Musik im Freien klingen soll und wie nicht

Im Alltag des Stadtmenschen, das hat Adorno jedenfalls vor sechzig Jahren mal so gesagt, „in unserem unmittelbaren Leben ist kein Platz mehr für Musik.“ So ein Unfug! In Berlin jedenfalls haben vor zwei Tagen wieder mit zartem Geknister die Bäume ausgeschlagen. Hoch oben in der Kastanie, im Hinterhof, bessern drei Elstern molto agitato & fortissimo gemeinsam ihr Nest aus (offenbar ein Operndrama, erster Akt: noch ist ungeklärt, wo die Liebe hinfällt und wer da nur Gatte, wer Hausfreund werden wird). Erst recht die Vorderhäuser sind beständig von helltönenden Frühlingsgefühlen umspült. Nicht extra der Rede wert, weil unabhängig von der Saison: das Ostinato städtischer Auto-, Bus-, Bahn- und Flugzeug-Musik; dazu tritt jetzt verstärkt das muntere Nörgeln der Betonmischmaschinen, die hellen Stakkato-Schläge der Gerüstbauer und ihre Zurufe sowie die Zufallsmusik schlagartig einbrechender Cluster-Tontrauben aus den Schuttrutschen, die, je nach Beschaffenheit des Baumülls, chamäleonartig die Klangfarbe abwandeln. Aber das mag Musik sein bloß in den Ohren der Bauunternehmer (für die ja, wie's scheint, kein Hauch von Rezession in der Berliner Luft liegt, sondern nur frisch-fröhliches Gründerzeit-Fieber).

Schlimm dagegen springt die Stadt derzeit um mit den rumänischen Bettelfrauen und den Berbern. Kaum haben sie leidlich überwintert, da kriegen sie gnadenlos Konkurrenz. Aus allen Berliner WG-Zimmern kriechen wieder die bereits seit den Gebrüdern Grimm berüchtigten Berliner Stadtmusikanten (erst durch gemeine Verballhornung in späteren Auflagen umbenannt in Bremer Stadtmusikanten – wie ja bekanntlich auch die Kölner Heinzelmännchen in Wahrheit aus Berlin-Neukölln kommen). Schon schwärmen sie ins Freie. Ab sofort beschallen die Berliner Stadtmusikanten nicht mehr nur, wie winters, jene vier bis fünf überdachten und gesundheitlich vertretbar luftzugarmen U-Bahnüber- beziehungsweise -unterführungen, die eine günstige Akustik haben. Sie sind wieder überall. Bald kann kein Berliner mehr einen Schritt vor die Türe tun, ohne, so unvermeidlich wie sonst nur in Hundekacke, in Original-Hauptstadtmusik zu treten: etwa auf den süddeutschen Liedermacher, der zwischen Selbstgemachtem immer mal wieder sanft und falsch ein „Let it be“ loswerden muß. Auf die Pseudo- Countries, die so tun, als hätten sie echten Rost in der Kehle und bestes Schmalz am rechten Gitarrendaumen, dabei aber klammheimlich in der Einkaufstasche eine Kassette mitlaufen lassen. Auf die Reste chilenischer Altstudentencombos oder auf zarte, junge Konservatoriumspflanzen, wie sie aus den immerhin noch doppelt in der Stadt vorhandenen Musikhochschulen sprießen: die da schüchtern ihre Mazas-Etüden herunternudeln und damit quasi öffentlich Hausaufgaben machen.

„Wer, als Einzelner auf der Straße, laut singen wollte, der liefe Gefahr, als Störer der Ordnung festgenommen zu werden“ (schrieb weiland Adorno – waren das Zeiten! Und weiter:) „Wer stumm in sich hineinsummt, abgezogen vom Auswendigen, der kann mit jedem Augenblick in ein Auto laufen“. Wäre dem so, dann gäbe es heute täglich Tausende toter Walkmanträger in den Städten zu beklagen. Doch ist der Mensch weitaus dehnbarer, als es sich die Musiksoziologie je träumen ließ. Und auch Straßenmusik hat in jüngster Zeit ganz neue Seiten aufgezogen. Was im Mittelalter den Vaganten und Bänkelsängern überlassen war, was selbst Adorno noch irgendwie als ein Protestpotential an sich erschien: das öffentliche Singen draußen an frischer Luft — das wird gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nunmehr von ausgebildeten Kammersängern, fest angestellten Staatskapellen und kompletten Chören erledigt. Die sogenannte „Hoch“-Kultur hat es der sogenannten „Gegen“-Kultur nachgemacht, sie zieht woodstockmäßig aus den fest gesicherten Musentempeln hinaus ins Freie und ist damit plötzlich, was sie nie so recht sein wollte: populär.

Die Masse macht's. Man macht damit vor allem gute Geschäfte. Letzten Sommer erlebten Zigtausende zu saftigen Preisen erstmals in der Waldbühne eine vollfette Verdi-Oper, heuer soll es ein Wiener Singspiel sein. Das mit der „Aida“ war schon ganz prima, sagte die Leitung der Lindenoper auf der Jahrespressekonferenz letzte Woche, und kündigte mutig entschlossen nunmehr Mozarts „Zauberflöte“ an. Barenboim selbst wird dirigieren, August Everding inszenieren. Das Gute am faschistoiden Waldbühnen- Rund, im Unterschied etwa zu anderen Opern-Open-air-Arenen, ist: daß sie so außerordentlich gröfazmäßig groß und die Bühne im Verhältnis dazu so überaus winzig klein ist: man wird also wahrscheinlich wieder sowieso nichts sehen. Allerdings sollte man diesmal, was den Open-air-Opern-Sound anbetrifft, wirklich keine halben Sachen mehr machen.

Wer populär werden will, muß erst einmal vom hohen Roß heruntersteigen: auf falsche Formalitäten verzichten wie auch auf das echte, handgemachte Vibrato. Luciano Pavarotti zum Beispiel, selbst jahrelang Pferdezüchter gewesen und heute abend wieder umjubelter Gast in der Berliner Deutschlandhalle, hat das neulich exemplarisch gezeigt mit dem Mitschnitt seines Wohltätigkeitskonzertes in Modena: „Pavarotti & friends“ heißt das Werk, und das Vibrato wird dort ganz offenkundig nur noch von der Hall- Maschine gemacht. Sicher, Pavarotti kann und soll seine große Opernröhre nicht verstecken. Er zeigt auch frank und frei: ihm fehlt absolut der Blues. Aber das hindert ihn nicht, gemeinsam mit Sting (der den Blues hat, aber nicht diese Röhre) das Francksche „panis angelicus“ dick mit Kunsthonig zu bestreichen oder mitsamt einem Haufen Poprockern ein „Oh, wie so trügerisch“ hinzulegen, wie es noch nie zu hören war: so vollkommen neben jeder Kappe, daß daraus schon wieder eine Kunst für sich und ein Genuß ganz exklusiver Art wird. Merke: Wo sich zwei Welten treffen, da muß es wenigstens ordentlich knirschen. „Cross over“ macht nur Spaß, wenn es gut und blutig „unten- durch“ ist.

Matti Salminen wird, wie verlautet, in der Waldbühnen-Zauberflöte den Sarastro singen. Die taz empfiehlt: Man stelle ihm als Königin der Nacht zur Seite: Nina Hagen. Weitere Besetzungsvorschläge: René Kollo (Tamino) und Madonna (Pamina). Wenn das nicht zu teuer wird. Eleonore Büning