Die Überlebenden kamen nicht zu Wort

■ Gedenkfeiern zum Aufstand des Warschauer Ghettos gingen zu Ende

Warschau (taz) – Als Polens Präsident Lech Walesa mit dem letzten überlebenden Kommandeur des Warschauer Ghettoaufstandes, Marek Edelman, und dessen Enkel langsam über den weiten Platz zum Denkmal für die Aufständischen geht, tönt militärischer Trommelwirbel über den Platz. Hinter der Prominententribüne haben sich mehrere tausend jüdischer Jugendlicher eingefunden, die brennende Kerzen halten und die israelische Flagge im Wind wehen lassen. Über den Platz malen riesige blaue Leuchtstrahler einen Davidsstern in den Himmel. Die Soldaten präsentieren das Gewehr, es knallt und scheppert über den ganzen Platz. Irgendwo im Hintergrund steht die kleine Gruppe der sieben überlebenden Aufständischen, die aus Israel und Kanada als Ehrengäste nach Warschau gereist sind.

Ihre Tat war ein symbolischer Akt der Würde, was sämtliche Redner bei sämtlichen Gelegenheiten dieser Tage unterstreichen. Doch die Gedenkveranstaltungen unterscheiden sich von den Feiern aus Anlaß jener zahlreichen und ebenfalls meist erfolglosen polnischen Nationalaufstände mit Nationalhymnen und „Gewehr bei Fuß“ nur wenig. Auch den Reden Walesas, des israelischen Premiers Rabin und des US-Vizepräsidenten Gore ist Nachdenklichkeit kaum zu entnehmen. Von Walesa erfährt man, daß die Aufständischen „polnische Bürger waren, die seit Jahrtausenden auf polnischer Erde lebten, gastfreundlich aufgenommen wurden und zu uns kamen, um Schutz zu suchen“.

Rabin erinnert den polnischen Präsidenten in seiner Rede daran, daß „viele Völker ihre Geschichte aufarbeiten müssen und eine Schuld auf dem Konto Israels haben“. Polens Ex-Kulturministerin Cywwinska hat ein „Licht-Ton- Spektakel“ vorbereitet, bei dem Bäume von Scheinwerfern rot gefärbt und der ganze Platz aus Lautsprechern mit Sirenengeheul und Maschinengewehrgeknatter beschallt wird. Ein jüdischer Tenor simmt ein Klagelied an, hinter ihm quillt erst weißer, dann schwarzer Rauch hinter dem Denkmal hervor. Am Ende zieht die Ehrengarde im Gleichschritt ab, und die Militärkapelle bläst einen heiteren Marsch dazu.

Marek Edelman hat keine Ansprache gehalten. Glaubt man Berichten israelischer Kollegen, war das ein Kompromiß auf höchster Ebene. Aus israelischer Sicht läßt Edelmans Identifikation mit dem jüdischen Staat einiges zu wünschen übrig. Von Anfang an hat er sich dafür ausgesprochen, die Feierlichkeiten nur unter polnischer Schirmherrschaft zu organisieren: „Das ist ein Ereignis der polnischen Geschichte und sollte auch als solches begangen werden.“ Neben Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, der eine eindrucksvolle Rede auf jiddisch hielt, war Edelman der einzige, der aus den Ereignissen vor fünfzig Jahren eine aktuelle Konsequenz zog. Heute, so betonte er in inzwischen ungezählten Interviews in polnischen Medien, sehe die Welt dem Völkermord in Jugoslawien mit der gleichen Ignoranz zu wie damals.

Was seine Mitkämpfer von damals dazu denken, erfährt man nicht. Während der Feierlichkeiten wurden offiziell mindestens 14 Kränze niedergelegt, drei Denkmäler enthüllt und mehr als 17 Ansprachen gehalten. Von Edelman abgesehen kam kein einziger der überlebenden Aufständischen zu Wort. Dafür ließ Israels Premier Rabin bei seiner Pressekonferenz wissen, er teile Edelmans Ansicht nicht: „Ich sehe kein Land auf dieser Welt, das von Staats wegen auf organisierte Art und Weise massenweise Menschen tötet.“

Politisch gesehen ist der 19. April 1993 für Polen ein voller Erfolg. Anders als sein Vorgänger, der die Polen beschuldigte, „sie saugten den Antisemitismus mit der Muttermilch ein“, bestätigt Rabin seinen polnischen Gastgebern, sie bemühten sich, sich Rassismus und Antisemitismus entgegenzustellen. Die Äußerung lief tagelang in den Nachrichten aller wichtigen polnischen Medien.

Al Gores Besuch ist schon an sich ein Erfolg für Polen, dessen Establishment noch auf Bush setzte, als in den USA an einem Wahlsieg Clintons kaum noch gezweifelt wurde. Auch der Beweis, daß Polens Sicherheitskräfte in der Lage sind, einen derartigen Staatsakt auf die Beine zu stellen, kann als gelungen angesehen werden, sieht man von einem gewissen Übereifer ab, der den Staatsschutz auch in arabische Studentenwohnheime pilgern ließ. Ihren Bewohnern wurde nahegelegt, beim Gang vom Wohnheim zur Uni besser nicht vom Weg abzukommen.

Die Warschauer begegneten den ständigen Polizeiblockaden mit relativer Gelassenheit, ihre Beteiligung war ohnehin nicht vorgesehen. „Eine Art jüdische Familienfeier“, nannte ein jüdischer Kollege das ironisch. Die Dekoration war indessen unverkennbar polnisch. Marek Edelman zufolge dürfte das in Ordnung gehen: „Es gibt Leute, die finden, der Aufstand im jüdischen Ghetto war in seiner Aussichtslosigkeit der polnischste aller polnischen Aufstände.“ Klaus Bachmann