Lupenreiner Freistil

Bo, Bernd, Bleibeil: Ostavantgarde, neu aufgelegt und immer noch unsinkbar  ■ Von Anke Westphal

Es ist ja hin und wieder von Vorteil, nie zu irgendeiner Szene gehört zu haben. Ich zum Beispiel durfte mich, unbekümmert um die ewig gleichen alten Stories über die Ostberliner Avantgarde, einfach mal auf dem Sofa zurücklehnen und die Bleibeil-Songs auf „Rauhensee“ sagenhaft schön finden, als mir Emilio Winschetti von Hidden Records im Dezember 1992 eines der seltenen Vinyl- Exemplare lieh. Alles andere war unbekannte Vergangenheit, Lichtjahre weg. Jetzt taucht „Rauhensee“ plötzlich doppelt aus alten Zeiten auf.

Im Herbst 1990 ereignete sich im Ostberliner Stadtbad Oderberger Straße jene legendenumwobene Fashion-Performance der Gruppe Allerleirauh, die Bo Golin (Kondren) und Bernd Jestram (sprich: Bleibeil) immer noch wie ein Klotz am Bein hängt. Die ganze Angelegenheit war schlagartig der Medien liebstes Kind, geisterte durch „Aspekte“ und ähnlich Arriviertes, denn der Mythos vom Prenzlauer Berg war noch intakt – immer wieder gut für eine Safari in den schrägen Osten. Bleibeil hatte mit „Rauhensee“ Musik entworfen – muß ich hier sagen –, und zwar nicht speziell für die Show. Schunkelnde, manchmal haarscharf aufgedrehte Stücke über Wasser und Schiffe, wofür Bernd Jestram wohl ewig ein Faible hat. Psychedelisches Waving im Minimalstil, hier und da ein bißchen fernöstlich eingelegt, Songs mit Kinderlied-Pathos oder cooles Seventies Revival, herrlich pompöse Sehnsucht – die (ost?)deutsche Antwort auf David Bowie, Gott allgemein und Haight Ashbury zugleich.

Zu „Rauhensee“ wandelte die kreative Elite in erstaunlicher Bekleidung auf den alten Fliesen der Schwimmhalle. Der immer so aufregend rot bemützte Robert Lippok (Ornament und Verbrechen) haute auf die Drums, Erik Huhn schob die Orgel, und Sarah Marrs' (als Malerin etc. pp. auch nicht gerade unbekannt) Stimme vagabundiert zwischen den Masterminds, „All Instruments“-Spielern und Backing-Vokalisten Bo und Bernd. „Love is unhappy when love ist away“ ist immer noch ein Liedchen wie eine frische Brise und gibt majestätisch „No Revenge“; ich möchte beim Hören glatt „hui!“ rufen, ungeachtet aller Jahre, die ich auf dem Buckel habe.

„Damals“ jedoch sang Maud- Ines, schwergewichtiges und nunmehr stadtbekanntes Model für Extraweites, in einem roten Kleid, das mit 126 Rosen benäht war, „Under Water“, einen ins Englische übersetzten Text des Russen Daniil Charms. Die sanfte Schwermut, die darin hallt, weht einen heute an wie neu.

Bleibeil hatte im Selbstverlag 1.000 Platten von „Rauhensee“ pressen lassen und während der Performance an die Leute gebracht, inzwischen Vinyl von Börsenwert. Die Show war gelaufen; o.k., das war's, fanden Bo und Bernd. Vorbei.

Ein hübscher kleiner Irrtum; es wäre auch zu schade gewesen, wenn Lothar Gärtner von Strange Ways Records Bo und Bernd drei Jahre vergeblich darum gebeten hätte, „Rauhensee“ richtig, nämlich auf einem Label und für den Handel, rauszubringen. Die beiden filigranen Seelen haben sich glücklicherweise doch überreden lassen. „Jetzt müssen wir alles noch mal erzählen“, maulen sie verdrossen, der bleischweren Kopplung ans „Früher!“ müde.

Immer mit der Ruhe. Denn der konkrete Bezug zur Show ist zwar weg, aber siehe da: Die Musik funktioniert trotzdem, für sich allein womöglich intensiver als mit Mantillen-Garnierung. Die Re- Release (obwohl's ja keine ist) von „Rauhensee“ enthält sogar vier Tracks aus neuem Material, das im Mai als „Orlando Furioso“ veröffentlicht wird und, allerdings wieder im Joint-venture mit Allerleirauh, an der Volksbühne Premiere haben wird.

Andererseits möchte Bleibeil endlich einfach nur Bleibeil sein: zwei bunte, wirre Jungen, die offensichtlich gebrannte Kinder sind, aber in ihrem winzigen Studio in der Bergmannstraße den schönsten, differierenden Hörstoff produzieren: Carrie Beehan, Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten, Knochen-Girl, A.R. Penck (o.T.) und die ultraorbital lustigen Space Hobos zum Beispiel.

Bleibeils jüngste Goldgräber- Tat ist es jedoch, eine Kreuzberger Band namens Kiss Freak Steven in ihrer ganzen Größe erkannt zu haben, und die Schreiberin dieser Zeilen bekundet hiermit ihren Zorn darüber, daß diverse geeignete Labels offenbar schlafen, anstatt den freakigen Steven zu küssen. Was Bo und Bernd angeht – Bleibeil schwimmt klanglich ganz oben, nicht nur mit „Rauhensee“, ein bißchen nervös, aber in lupenreinem Freistil.

Bleibeil: „Rauhensee“, Strange Ways/Indigo