Gewaltfrage bremst Vereinigungszug

Kurz vor ihren Vereinigungsparteitagen am Samstag inszenieren Bündnis 90 und Grüne ihr schwerstes Zerwürfnis / Heftiger Fraktionsstreit um Distanzierung von Anti-Olympia-Demo  ■ Von Dieter Rulff

Berlin. Dem Grünen-Abgeordneten Albert Eckert platzte der Kragen. Es sei, so befand der ansonsten wegen seiner Sanftmut Bekannte, „eine persönliche Zumutung, unterstellt zu bekommen, ich tendiere dazu, zu Gewalt aufzurufen oder sie zu tolerieren“. Was Eckert in Harnisch brachte, war nicht eine der landesüblichen Presseerklärungen der CDU, sondern ein Aufruf seiner Fraktionsvorsitzenden Anette Detering und ihres Stellvertreters Uwe Lehmann (beide Bündnis 90), in dem diese eine eindeutige Distanzierung von der Anti-Olympia-Demonstration am vergangenen Sonntag gefordert und zudem ihren Fraktionskollegen im besten Pionierdeutsch die Leviten gelesen hatten: „Uns bleibt die Pflicht, in der Fraktion künftig für eine konsequente gewaltfreie Handlungsweise einzutreten.“

Soviel Chuzpe mochte Eckert nicht durchgehen lassen. In der Fraktionssitzung am Dienstag dieser Woche stellte er einen Abwahlantrag gegen Detering und löste damit, kurz vor der Fusion von Grünen und Bündnis 90 auf Berliner Landesebene, die bislang heftigste Krise zwischen den beiden Parteien aus. Bereits Tage zuvor hatten sich die beiden Landesvorstände per Presseerklärung um das rechte Maß an Gewaltfreiheit gestritten. Als Eckerts Antrag auf den Tisch kam, war für das Bündnis 90 „die Geschäftsgrundlage der gemeinsamen Fraktion und damit auch der gemeinsamen Organisation in Berlin in Frage“ gestellt.

Die Drohung, die Gemeinschaft aufzukündigen, vier Tage bevor am Samstag beide Parteien über die künftig gemeinsame Satzung abstimmen, zeigte Wirkung. Deterings Co-Fraktionschef, dem Grünen Wolfgang Wieland, gelang es Dienstag abend mit Mühe, „die Kuh vom Eis zu ziehen“. Aus dem Abwahlantrag wurde eine Mißbilligung, die die Fraktion ihrer Vorsitzenden und deren Stellvertreter aussprach. Der drohende Bruch war damit zwar erst mal abgewendet, doch die Gräben keinesfalls überwunden. Für Eckert bleibt das Mißtrauen bestehen, und auch Detering kann „nicht zur Tagesordnung übergehen“. Ein Aussetzen der Vereinigungsverhandlungen liege, so erklärte sie gestern, „in der Luft“. Sie stehe nach wie vor zu einem Großteil ihrer Bewertung und erhoffe sich für den Samstag eine Debatte über den Konflikt.

Die Bündnis-Politikerin vermißt bei den Grünen den „Konsens zur Gewaltfreiheit“. Mit Gruppen, zu deren Repertoire Gewaltanwendung gehöre, so Detering, dürfe es keine politische Zusammenarbeit geben. Der Bündnis-90-Landesgeschäftsführer Michael Wartenberg bemängelt, daß es den Grünen an dieser Eindeutigkeit mangelt, weil sie „mit einem Auge auf das Wählerpotential der Autonomen schielen“. Für das Bündnis 90 hingegen sei, aufgrund der Erfahrungen im Herbst 89, die Forderung „keine Gewalt“ konstitutiver Bestandteil seines Selbstverständnisses. In Deterings Augen ist das Ganze „überdeutlich ein Ost-West-Konflikt“.

Diesem Schema widerspricht die Person, an der sich der ganze Konflikt entzündet hat. Judith Demba, sportpolitische Sprecherin und Ost-Grüne, sieht die Friedfertigkeit der Bürgerbewegung im Herbst 1989 weniger programmatisch begründet, als vielmehr durch die damaligen Verhältnisse aufgezwungen. Das Identitätsproblem des Bündnis 90 sei darin begründet, daß die Bürgerbewegten „ihren Platz im Parteienspektrum noch nicht gefunden“ haben. Deshalb, so Dembas Prognose, werden die Konflikte nicht aufhören.

Bei den bisherigen Vereinigungsgesprächen ist man diesen inhaltlichen Auseinandersetzungen ausgewichen. Seit die Verhandlungen vor über einem Jahr begannen, stand das Gerangel um die jeweiligen Einflußsphären im Vordergrund, wurde um den Gremienproporz gestritten und der zukünftige Name fast zur Existenzfrage erhoben. Dabei wurden dem Berliner Landesverband des Bündnis 90 von seinem grünen Partner gar besondere Vereinigungsängste zugestanden, ist er doch der einzige in der ganzen Republik, der von der politischen Bildfläche verschwinden wird. Um ihm dieses Schicksal zu erleichtern, gingen die Berliner Grünen noch über die Regelungen hinaus, die auf Bundesebene vereinbart wurden. Die Satzung, die am Samstag auf getrennten Sitzungen von beiden Verbänden verabschiedet werden soll, sieht vor, daß in den kommenden vier Jahren der Vorstand paritätisch besetzt ist und das Bündnis 90 ein Drittel der Abgeordneten stellt, obgleich ihm nur 390 der zukünftig 2.990 Mitglieder angehören. Vielen Grünen gehen diese Zugeständnisse zu weit, im Vorstand rechnet man deshalb fest mit Änderungsanträgen. Diese dürften jedoch letztendlich genausowenig bewirken wie die Moratoriumsdrohung des Bündnis 90. Denn seit sich beide Parteien in einer Urabstimmung für die Fusion ausgesprochen haben, so die Einschätzung Wielands, „läuft der Vereinigungszug, auch wenn die Berliner sich auf den Kopf stellen“.