Und wenn das Volk pariert, regiert es sich ganz ungeniert

■ Gestärkt durch die Korrektur des Wahlmodus, die das russische Verfassungsgericht am Mittwoch zu seinen Gunsten vornahm, kann Boris Jelzin dem Referendum am Sonntag gelassen...

Und wenn das Volk pariert, regiert es sich ganz ungeniert

Rußlands Verfassungsgericht sprach Recht – und tat sich damit gewohnt schwer. Mit eintägiger Verspätung fällte es im Streit zwischen Präsident Jelzin und dem Kongreß der Volksdeputierten ein beinah salomonisches Urteil: Sowohl der Kläger (Jelzin) als der Beklagte (Kongreß) dürfen sich teilweise als bestätigt betrachten. Jelzin hatte das Gericht beauftragt, zu prüfen, ob die Änderungen, die der Volksdeputiertenkongreß am Referendumsgesetz vorgenommen hatte, verfassungskonform seien. Auf seiner letzten Sitzung nämlich hatte der konservative Gesetzgeber die Margen für die Gültigkeit eines Plebiszites mal eben raufgesetzt, um Jelzin eine Niederlage zu bereiten; statt einer einfachen Mehrheit aller Wahlberechtigten sollten über die Hälfte aller Wähler für den Präsidenten stimmen, wollte er das Ergebnis als deutlichen Vertrauensbeweis werten. Zudem versuchten die Parlamentarier durch zusätzliche Fragen – wie etwa die nach der Zufriedenheit der Bürger mit den Wirtschaftsreformen oder die zu Neuwahlen des Präsidenten wie des Kongresses – Jelzin die Suppe noch zu versalzen.

Das Gericht entschied, die beiden ersten Fragen – also die nach dem Vertrauen in den Präsidenten und die Wirtschaftsfrage – bedürften lediglich einer einfachen Wählermehrheit. Neuwahlen des Präsidenten und des Parlamentes hingegen bräuchten die Zustimmung der Hälfte aller Wahlberechtigten. Verfassungsrechtlich macht dieses Urteil Sinn. Die angestrebte Machtenthebung durch die jeweils andere Seite – und das wäre es ja eigentlich – erfordert in den meisten Demokratien die Absegnung durch eine qualifizierte Mehrheit. Insofern hat sich das Gericht diesmal an rein rechtlichen Gesichtspunkten orientiert. Dafür spricht nicht zuletzt das einstimmige Urteil aller Richter in allen vier Fragen. In den letzten Monaten war das Verfassungsgericht in Verruf geraten, nachdem sein Vorsitzender Walerij Sorkin im Moskauer Machtkampf einseitig Partei für die konservative Riege um Parlamentschef Ruslan Chasbulatow ergriffen hatte.

Doch wohin führt dieses Ergebnis nach dem Referendum? Schon heute ist klar, daß die Mehrheit der Wähler dem Präsidenten ihr Vertrauen aussprechen wird. Jelzin kann sich als moralischer Sieger fühlen, die Bestätigung, die er wollte, hat er erhalten. Womöglich wird er sogar im Punkte „Unterstützung der Wirtschaftspolitik“ mit einem blauen Auge davonkommen. Der entscheidende Punkt hingegen – Neuwahlen zum Parlament – dürfte kaum die erforderliche Mehrheit aller Wahlberechtigten erhalten. Doch hinsichtlich dieser Frage hatte Jelzin schon vor dem Urteilsspruch angekündigt, er wolle sich nicht an das Ergebnis des Referendums halten und schon vor dem offiziellen Ende der Legislaturperiode 1995 Neuwahlen abhalten. Er drohte an, gleich nach der Stimmenauszählung maßgebliche Schritte einzuleiten. Es gibt Spekulationen darüber, Jelzin könnte das Parlament einfach auflösen. Wie real die Furcht der Parlamentarier ist, zeigte die interne Anordnung der Parlamentsadministration, alle Deputierten sollten sich am Montag in Moskau einfinden. Offiziell tagt der Kongreß nicht. Jelzins radikale Parteigänger fordern seit langem ein rigoroses Durchgreifen gegen die Blockierer aus den Reihen der alten Nomenklatura.

Kampflos verabschiedet sich der Gegner nicht aus der Politik

Nach diesem Urteil dürfte es ihm allerdings schwerer fallen, am Gesetz vorbei zu agieren. Alles ist darauf angelegt, das paralysierende Gegeneinander der Gewalten fortzuschreiben. Und Rußland wäre nicht Rußland, würde auf A unmittelbar B folgen. Zumindest die nächsten Wochen werden noch eine ganze Reihe von Turbulenzen bereithalten.

Denn kampflos wird sich die jetzige Legislative nicht aus der Politik verabschieden. Selbst dann nicht, wenn die erforderliche Mehrheit der Bevölkerung es ihren Mitgliedern per Plebiszit überdeutlich ins Stammbuch schriebe. Nicht im entferntesten haben sie sich mit demokratischem Gedankengut und Spielregeln vertraut gemacht. Sie sind und bleiben Interessenvertreter einer schmarotzenden Oligarchie.

Jelzin wird anfangs so tun, als ignoriere er das Parlament. An der Entscheidungsfähigkeit und Implementierung seiner Politik ändert sich damit nichts. Sein nächster Schritt könnte dann die Einberufung oder Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung sein. Seit langem liebäugelt er damit, und Anatolij Sobtschak, der Petersburger Bürgermeister, brachte es in den letzten Wochen wieder ins Gespräch. Jelzin favorisiert eine präsidiale Verfassung nach dem Vorbild der französischen Konstitution. Der Volksdeputiertenkongreß würde aufgehoben und durch ein Zweikammer- Parlament ersetzt, dessen Kompetenzen allerdings beschränkt würden. Zudem würde Rußland eine vollwertige Föderation, die den einzelnen Subjekten des Bundes weiterreichende Rechte einräumen würde. Natürlich hofft Jelzin mit diesem Manöver, die Zustimmung der autonomen Republiken und Gebiete zu gewinnen, um mit ihrer Unterstützung am Kongreß vorbei die neue Verfassung zu verabschieden.

Eine klare Strategie ist bis heute nicht zu erkennen. Natürlich wäre es möglich – wenn die Wähler am Sonntag an der Urne eine unmißverständliche Entscheidung treffen, die nicht ganz den Vorgaben des russischen Verfassungsgerichtes entspricht –, den Kongreß einfach aufzulösen. Zeigt sich der Kongreß in der nächsten Zeit nicht kooperationsbereit, könnte die ohnehin von der Politik entnervte Bevölkerung noch einmal auf die Straße gehen, um ein Ende des Machtgerangels zu erzwingen. Vielleicht baut der Präsident, der in solchen Situationen zur Hochform aufläuft, auf diese Variante. Es wäre auf jeden Fall ein heikles Unternehmen.