Amato rechnet mit dem italienischen System ab

■ Der scheidende sozialistische Regierungschef fordert einen historischen Schnitt / Kurz vor seinem förmlichen Rücktritt war seine Nachfolge ungewiß

Rom (taz) – Mit einer regelrechten Brandrede hat sich am Mittwoch abend Italiens sozialistischer Regierungschef Giuliano Amato verabschiedet und angekündigt, daß er sein Mandat als Chef der Regierungskoalition von Sozialisten, Christ- und Sozialdemokraten und Liberalen abgeben werde. Bis Redaktionsschluß diskutierte das Parlament noch über die Rede. Amatos formelle Rücktrittserklärung wurde gestern abend während eines Treffens des Regierungschefs mit Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro erwartet.

Das System sei am Ende, mehr noch, es sei nie ein richtiges demokratisches System gewesen, hatte Amato erklärt. Auf den Ruinen des Faschismus habe man ein neues Regime errichtet, doch die dabei ausgerufene „Vielfalt der Richtungen“ habe nur zu einer Parteienherrschaft geführt. Die müsse schleunigst beseitigt werden. In weniger als zwanzig Minuten demontierte der Verfassungsrechtler Amato all das, was er selbst früher die „beste aller bisherigen Verfassungen“ nannte.

Amato sieht allerdings „nichts Neues, das das morsche System ersetzen kann“. Viele Kollegen des durch zahlreiche Skandale in seinem Kabinett gestolperten Sozialisten denken freilich anders: Sie halten die „neue Republik“ für machbar.

So auch neue politische Gruppen wie „la Rete“ des ehemaligen antimafiosen Bürgermeisters von Palermo, Leoluca Orlando, oder die oberitalienischen regionalistischen „Ligen“. Am wenigsten überzeugt von einer neuen Republik sind die bisherigen Oppositionsparteien (die Neofaschisten ausgenommen). Wie die Regierungsparteien sind sie durch Ermittlungsverfahren betroffen. Und sie haben erkannt, daß der Ruf nach neuen Gesichtern bereits das gesamte Spektrum der traditionellen Parteien und damit auch sie selbst diskreditiert hat: Auch wenn sie unbescholtene Personen präsentieren, werden sie an den Fehlern der Partei gemessen werden. Die ehemaligen Kommunisten, die nun „Demokratische Partei der Linken“ (PDS) heißen, zögern ebenso wie die vor zwei Jahren aus der Regierung ausgestiegene industrienahe „Republikanische Partei“ vor einem Engagement in einer neuen Regierung. Und das nicht nur aufgrund sachlicher Divergenzen: Keiner traut mehr dem anderen. Selbst junge Nachrücker wie der voriges Jahr erstmals in ein Regierungsamt gehievte Verteidigungsminister Salvo Ando sind im Fadenkreuz der Staatsanwälte.

Staatspräsident Scalfaro scheint deshalb einer „institutionellen“ Lösung der Krise den Vorzug geben zu wollen: Der Präsident des Abgeordnetenhauses oder des Senats soll eine Übergangsregierung mit genau begrenztem Auftrag führen. Ziel: die notwendige Verfassungs- und Wahlrechtsreform und die Vorbereitung von Neuwahlen für spätestens Herbst 1993. Die meisten Parteien wollen jedoch lieber einer reine „Techniker“-Administration, möglicherweise mit dem ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts, Norberto Elia, oder Notenbankpräsident Ciampi an der Spitze – die schnelle Durchführung der Korruptionsprozesse und die Sanierung des Haushalts sei, so das Argument, derzeit noch wichtiger als die Verfassungsreform.

Bereit für eine Regierungsbildung scheint nun jener Mann zu sein, dem die Italiener noch am meisten zutrauen: der Leiter des Referendum-Paktes Mario Segni, der vor drei Wochen aus der Christdemokratischen Partei ausgetreten ist und dem etablierten System seit Jahren mit Volksabstimmungen zusetzt. Über ihn, so glauben Kenner der Politszene, sind keine bösen Enthüllungen zu erwarten – zu genau wurde er schon von politischen Gegnern abgeklopft und durch Geheimdienste ausgespäht – immer ohne Ergebnis. Ob Präsident Scalfaro ihn mit der Regierungsbildung beauftragt, ist allerdings unklar. Außer mit Referenden hat Segni bisher nicht gezeigt, daß er zu einem Regierungsprogramm in der Lage ist. Werner Raith