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Sommer '92 in Bendery

Russische Bürgerkriegssorgen in Balkannähe  ■ Von Nadeschda Bosatikowa

Jedem Russen, der sich mit Nostalgie in die achtziger Jahre zurücksehnt, möchte ich vorschlagen, einmal in die Dnjestr-Region zu fahren und die Atmosphäre noch einmal in vollen Zügen zu atmen, die wir schon nicht mehr für möglich halten. Tatsächlich traf ich dort unten Leute, die extra wegen der „berauschenden Luft“ gekommen waren. Sie fanden das Atmen dort leichter als zu Hause, die Menschen simpler und reiner und mehr wie in der Vergangenheit.

Die Moskauer Memorial- Gruppe (Zentrum zur Verteidigung der Menschenrechte) hatte mich in die Dnjestr-Region geschickt, um den brutalen Konflikt in Bendery zu beobachten. Was ich dort sah, hat mich bestürzt und erschreckt. Wie eine Last liegt es bis heute auf mir.

Das erste, was ich sah, war ein gepanzertes Fahrzeug, das vor der Stadtverwaltung in Tiraspol stand; Männer in Tarnanzügen spazierten mit automatischen Feuerwaffen im Arm herum, obwohl es in der Stadt selbst keine Kämpfe gegeben hatte. Nachts hörte ich aus Richtung Bendery den Lärm einschlagender Artilleriegeschosse. Und zum Frühstück begrüßten mich Militärlieder aus dem lokalen Radiosender. Diese Lieder schmerzten mich. Zu Hause in Moskau hätte ich ihnen keinerlei Bedeutung beigemessen und angenommen, es ginge um ein Konzert für Kriegsveteranen. Aber hier war das anders, hier war ganz in der Nähe ein Krieg: Menschen wurden getötet und zu Krüppeln geschossen.

Der Sender betonte permanent den Ernst der Situation. Beispielsweise wurde eine Sendung mit klassischer Musik unterbrochen und folgender Text verlesen: „Aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen ist bekanntgeworden, daß die feindlichen Kräfte in Kischinew eine Mordkampagne gegen Kinder planen, und zwar durch die Deponierung von Sprengsätzen, die als Kinderspielzeug, Füllfederhalter, Lebensmittelkonserven und ähnliches getarnt sind ...“ Dieser Text wurde in kurzen Abständen mindestens dreimal im Stadtradio wiederholt. Man warnte die Menschen davor, etwas von der Straße aufzuheben und auf der Hut zu sein. Plötzlich erinnerte ich mich daran, daß es Anfang 1980 in Moskau hartnäckige Gerüchte um in dieser Art getarnte Sprengsätze gegeben hatte. Aber es waren nur Gerüchte gewesen, kein Mensch war in die Luft geflogen, aber irgendwie hatte es immer „Zeugen“ eines tragischen Ereignisses solcher Art gegeben. Die Gerüchte hatten sich verstärkt und über ganz Moskau verbreitet.

Jetzt schien sich in Tiraspol alles noch einmal zu wiederholen. Nicht nur Radio Tiraspol, sondern auch die Zeitungen sorgten für eine Verbreitung dieses Gerüchts. Und obwohl sie offensichtlich unrichtige Informationen verbreiteten und eine bereits durch tatsächliche tragische Ereignisse des Bürgerkrieges um sie herum emotionalisierte Bevölkerung aufhetzten, sahen sich die lokalen Massenmedien keineswegs veranlaßt, dieser Nachricht auf den Grund zu gehen.

Gerüchte über Grausamkeit können zu wirklichen Grausamkeiten führen; Menschen, die täglich Blut und Leiden um sich herum sehen, werden oft unempfindlich dagegen. Einen Einwohner dieser unglücklichen Stadt sah ich seine Maschinenpistole fest an sich drücken; er sagte, er würde diese Waffe nicht wieder loslassen; wie könne er je seiner Mutter wieder in die Augen sehen, wenn er den Tod seiner zwei Brüder nicht rächte. Hier wird viel über Rache gesprochen ...

Die Stadt Bendery selbst wirkte auf mich fast absurd: überall blühten Rosen und in den Gärten reiften Beeren und Früchte. Direkt daneben verbeulte, ausgebrannte Militärmaschinerie; zerrissene Stacheldrähte und Zementblocks verbarrikadierten die Straßen, überall verlassene Häuser und ausgebrannte Wohnungen. Obwohl die Sonne schien, waren die Straßen menschenleer. Die Bewohner der Stadt versteckten sich in den Kellern. Ab und zu fuhren die Verteidiger der Stadt in einem Militärfahrzeug vorbei. Auf den verlassenen Straßen standen gepanzerte Wagen, Männer in Militärkleidung schliefen unter Tarnzelten. Alles schien ruhig, bis plötzlich irgendwo Maschinengewehre losgingen, dann wieder Stille; danach blieb es meist ruhig bis zum Abend, wo Schüsse und automatisches Feuer sich wieder häuften.

Wer jedoch genau hinsieht, kann immer noch Leben in der Stadt entdecken, die auf eine ganz merkwürdige Weise weiterlebt. Kurz vor zwei am frühen Nachmittag kommen die Menschen aus den Kellern und gehen einkaufen – schließlich muß man etwas zu essen haben. Lange Schlangen formieren sich für Brot und andere Lebensmittel. Dennoch wirkt die Stadt weiterhin leer: man sieht keine Kinder mehr.

Ich sah einen Jungen, der ein automatisches Gewehr hielt, mit dem er auch schon geschossen hatte. Seinen Augen und Gesichtszügen nach war er noch ein Kind, keine 18, nur wenig jünger als mein Sohn. Als ich nach Tiraspol zurückkam, betete ich darum, daß er noch lebte. Und als ich ihn nach ein paar Tagen tatsächlich wiedersah, war ich überwältigt vor Freude, als hätte ich ein Mitglied meiner Familie wiedergesehen oder einen Freund.

Eine Mutter, die ihren Sohn verabschiedete, der an die Front ging, schien ganz ruhig und sagte ihm nur, daß er auf sich aufpassen solle. Ich versuchte mir vorzustellen, ich sei an ihrer Stelle; ich bezweifle, daß ich hätte so ruhig bleiben können.

Ich erinnere mich an eine völlig verängstigte Frau, deren tägliche Arbeit es war, als Wärterin des Friedhofs von Bendery die entstellten Körper der Getöteten zu beerdigen. Am Tag begrub sie die Leichen junger Männer, und abends wurde sie regelmäßig von Polizisten und Freiwilligen Milizionären (Moldawiens freiwillige Militäreinheiten) besucht, die sie bedrängten, keinen aus der Dnjestr- Region in moldawischem Boden zur Ruhe zu betten. Jeden Abend zitterte sie vor Angst wegen dieser Drohungen; jeden Abend versuchte sie, sich vor diesen Männern zu verstecken, und jeden Tag mußte sie wieder den Anblick getöteter Jungen aushalten. Mit all dem war diese Frau täglich konfrontiert, und doch war ihre schlimmste Sorge ihr Teppich, von dem sie so lange geträumt hatte und den sie vor kurzem wirklich hatte kaufen können. Er hatte viel Geld gekostet, und er hatte in ihrem Haus zurückbleiben müssen, das in der Feuerzone lag. Es gab Plünderer, die ihn vielleicht schon gestohlen hatten ... Der mögliche Verlust des Teppichs war zuviel für sie, und sie ging mit zwei Bewachern in die Feuerzone, um ihren Teppich zu retten.

Haben Sie schon einmal verlassene und zerstörte Häuser gesehen? Ich sah die Spuren einer überstürzten Flucht aus Häusern, die einmal voller Menschen gewesen waren: am Boden zerstreute Unterwäsche und Besteck, Bücher und Fotografien; Kinderhöschen, verloren auf der Wäscheleine; Spielzeug, ein verlassener Teddybär – dazu das Geräusch von Wasser, das von den Decken tropfte. Alle Zu- und Abwasserrohre waren zerstört, die Wände geborsten, alles eingeschwärzt von Explosionshitze, die Treppen zerrissen und einsturzgefährdet, alle Häuser entlang der Straße mindestens übersät mit Einschußlöchern.

Im Krankenhaus von Tiraspol traf ich einen etwa dreißigjährigen Milizionär, der betrunkenen Freiwilligen in die Hände gefallen war; sie hatten ihn zusammengeschlagen und Sterne auf seinen Bauch und in die Hände geschnitten. Er hatte gerade so überlebt und es sogar geschafft, noch wegzulaufen. Zwei Tage lang war er durch den Gerbowitskywald bei Bendery geirrt, hatte immer wieder das Bewußtsein verloren (er litt an einer Gehirnerschütterung), bevor er schließlich gefunden und ins Krankenhaus gebracht worden war. Seit März, so erzählte man mir, gingen Milizionäre der Dnjestr-Region „auf die Jagd“ nach moldawischen Polizisten.

Die leidenden Gesichter der Menschen, die bei den Kämpfen verletzt wurden. Ein verbranntes Gesicht, das mich quälend ansieht. Obwohl ich dafür gekommen bin: wie könnte ich diesen Mann fragen, wo und wie es geschehen ist?

Hier ein Mädchen, fast noch ein Kind mit ihren 13 Jahren, mit einer schweren Bauchwunde. Und drüben ein alter Mann, der im eigenen Hof verletzt wurde. Er weint. Diese alte Frau hier war in ihrer eigenen Wohnung verwundet worden, eine Kugel war durchs Fenster gekommen und hatte sie im Bauch getroffen. Sie hatte nur knapp überlebt. Der Ambulanzwagen war erst nach 16 Stunden eingetroffen, da ihr Haus in der Feuerzone liegt. Neben ihr liegt eine junge Frau, die kaum noch sprechen kann. Ihr Mann ist vor ihren Augen von einer explodierenden Mine zerrissen worden. Sie waren zusammen um Brot unterwegs gewesen, jetzt sind ihre Kinder vaterlos.

Ich werde auch die junge Frau nur schwer vergessen können, die ihren achtzehnjährigen Bruder suchte und entdecken mußte, daß sein verkohlter Körper längst schon beerdigt worden war. Ich hörte sie einen so furchtbaren Schrei ausstoßen, daß ich am liebsten mitgeschrien hätte.

Zu all dem Blutvergießen und Leiden in dieser zur Front gewordenen Stadt kommen die Plünderungen hinzu. Ich hörte, daß der Rat der Arbeitskollektive, eine riesige „Führungsorganisation“, die wohltuende Wirkung standrechtlicher Erschießungen von Plünderern diskutierte, als Warnung. Später setzten sie diesen Plan um. Auf dem Platz vor der Stadtverwaltung von Bendery montierte man eine Stellwand, auf der Fotos von expertenhaft zerschlagenen Gesichtern von Plünderern zu sehen waren. Fast jeder Passant, der sich diese Fotos ansah, war der Meinung, daß die Dargestellten eigentlich erschossen gehörten.

Wenn an jeder Ecke einer mit einer schußbereiten Maschinenpistole steht, wirken solche Meinungen bedrohlich. Das erinnert dann schon nicht mehr an die achtziger Jahre, sondern eher an die dreißiger.

Immer wieder bestätigten mir die Leute in der Dnjestr-Region, sie unterstützten Präsident Igor Smirnow. Es hatte ein Referendum über die Souveränität der Dnjestr-Region gegeben, und die Bevölkerung hatte sich eindeutig für Smirnow als Präsidenten ausgesprochen, in der Hoffnung, er würde sie vor einer „Rumänisierung“, wie sie Moldawien wünschte, schützen. Aber hätte er diesen Preis für die Rettung akzeptieren sollen? Hatte er alles getan, um den Konflikt zu vermeiden?

Ich habe meine Zweifel bekommen an der einmütigen Unterstützung der Bewohner der Dnjestr- Region für die Politik von Präsident Smirnow. Eine Frau aus Bendery, die mir ihren Namen nicht sagen wollte, erklärte, ihrer Meinung nach sei der Militärkonflikt ebenso Smirnows Schuld wie Snegurs und daß betrunkene Freiwillige genau wie Kischinew-Truppen auf alles feuern, was sich rührt. Die knapp vierzigjährige Russin verurteilte die Unabhängigkeit der Dnjestr- Region als illegal. Ich glaube, daß sie mit ihrer Meinung nicht alleine steht. Ich traf einen unglücklichen Vater, dessen Sohn in den ersten Tagen des Krieges umgekommen war. Er war gegen seinen Willen gezwungen worden, zu sagen, daß sein Sohn von „den Faschisten der OPON“ (der moldawischen Streitkräfte) getötet worden sei. Als wir alleine waren und keiner uns hören konnte, erzählte er mir, daß sein Sohn nach der Verkündigung der allgemeinen Mobilmachung im Radio zu seinem Arbeitsplatz losgegangen war, um sich eine Waffe zu holen. Das war das letzte Mal, daß er seinen Sohn gesehen hatte.

An jenem Tag, dem 20. Juni 1990, waren mindestens vierzig junge Wehrpflichtige umgekommen. Im Laufe unseres Gesprächs beklagte sich dieser Vater bitterlich über die städtischen und staatlichen Verantwortlichen.

Ich sah mir die Liste der Toten an. Mir fiel auf, wie sehr sie von den offiziellen, staatlichen Angaben abwich. Besonders überraschte mich die hohe Zahl der männlichen Opfer im wehrpflichtigen Alter. Die offiziellen Berichte der Dnjestr-Region betonten, daß 75 Prozent der Opfer friedliche Zivilisten gewesen seien. Diese Männer waren einmal friedliche Zivilisten gewesen, nach der generellen Mobilmachung jedoch hatten sie Waffen getragen. Nach intensivem Studium der Totenlisten kam ich zu dem Schluß, daß die Behörden des neuen, unabhängigen Staates diese Männer einfach ins Feuer geschickt und sie als Kanonenfutter mißbraucht hatten.

In der gesamten Dnjestr-Region herrscht eine Atmosphäre von Angst und Mißtrauen. Hierhin kommen „russische Patrioten“ und verteidigen das Gebiet vor der „Rumänisierung“. Aber vielleicht ist das nicht ihr einziger Grund.

Am Anfang habe ich von Männern geschrieben, die ich in der Dnjestr-Region traf und die aus Nostalgie hierherkommen, um die „berauschende Luft“ zu atmen. Einer von ihnen, ein ehemaliger Rotkreuzmitarbeiter, der seinen Arbeitsplatz verlassen hatte und hier Soldat geworden war, um die Freiheit der Dnjestr-Region zu verteidigen, erklärte mir, daß er „nie Gefangene mache“. Er fügte hinzu: „Das ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt.“

Inzwischen fließt verstärkt humanitäre Hilfe in die Dnjestr-Republik. Zur Sorge Anlaß gibt jedoch die Frage, warum diese Hilfe nur aus „patriotischen“ Kreisen in Rußland kommt. Warum nicht von Demokraten? Die Hilfsleistungen werden in Kooperation mit der Zeitung Den, eine der populärsten Zeitungen, geschickt. Es würde mich interessieren, ob die humanitäre Hilfe etwa im Tausch gegen Waffen geliefert wird. Davon gibt es da unten mehr als genug, und keinen, der sie kontrolliert. Mindestens zwei Opfer dieser unkontrollierten Waffen kenne ich. Das macht mir Angst. Ich fürchte, daß es zu noch mehr Blutvergießen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion kommen wird, in Rußland und sogar in Moskau.

Meiner Meinung nach sind beide Präsidenten für das Blutvergießen verantwortlich: Präsident Snegur von Moldawien, der Soldaten und Panzerwagen in eine Stadt voller Leben schickte und den Einwohnern Schmerz und Leid zufügte, und auch Präsident Smirnow, der aus dem kleinen Stück Land jenseits des Dnjestr eine Rebellenrepublik machte und seine Bevölkerung für seine eigenen politischen Zwecke in einen Bürgerkrieg verwickelte. Keiner von ihnen ist unschuldig.

(16. August 1992)

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