Die Herren der Säle und ihre Schlüssel

Was im Gefängnis der Schließer, mag im Kriminalgericht Moabit der Gerichtsdiener sein, im Amtsdeutsch „Justizwachtmeister“ / Symbol ihrer Macht: Ein sorgsam gehüteter Schlüsselbund  ■ Von Julia Albrecht

Er sagt nur wenige Sätze. Sein häufigster Satz ist mehr ein Rufen denn ein Sprechen: „In der Strafsache gegen X, die Prozeßbeteiligten bitte eintreten.“ In dem kirchenschiffgroßen Innenraum des Berliner Landgerichts in Moabit wird dieser Satz zu einem schallenden Dröhnen. Nur aus unmittelbarer Nähe zum Rufer ist zu vernehmen, gegen wen verhandelt wird. Aber selbst Stockwerke entfernt, Etagen tiefer weiß jeder, daß wieder eine Verhandlung beginnt, ein Strafprozeß seinen Lauf nehmen wird.

Er ist der Herr des Saales. Er dient, so sagt man, aber das trügt. Der Gerichtsdiener ist niemandes Diener, nicht im wirklichen Sinne. Wie der Richter dem Recht, dient der Gerichtsdiener dem Ablauf. Gäbe es ihn nicht, gäbe es keine Verhandlung.

Frank Grix ist Gerichtsdiener. „Justizwachtmeister“ sagt das Amtsdeutsch. Von schräg hinten betrachtet, ähnelt er tatsächlich einem Wachtmeister. Aus dieser Warte nämlich sieht man vor allem ein kleines braunes Halfter. Wenn es Krawall gibt im Gerichtsgebäude zieht er seine Waffe und zögert nicht, sie zu benutzen, so die Vorstellung. Aber Justizwachtmeister tragen keine Waffen.

In dem kleinen Lederhalfter steckt ein Schlüsselbund. Als Herr des Saales hat er die Schlüsselgewalt. Es ist ein spannender Schlüsselbund. Ein Handschmeichler der ganz große, lange, silbern glänzende Schlüssel mit schlichtem Bart. „Das ist der Zellenschlüssel“, sagt Grix.

Die Zelle liegt im Keller. Hier werden die Untersuchungshäftlinge während einer Verhandlungspause verwahrt. Der Gangzur Zelle gehört allein den Wächtern und den Untersuchungshäftlingen. Verborgen liegt er zwischen den Wänden in den Hohlräumen des Gemäuers, betretbar allein durch unscheinbare Türen, die in den Holzverkleidungen der Saalwände versteckt sind. Durch eine solche Tür führt Grix die Häftlinge nach unten.

Hinter der Tür ist nichts mehr braun vertäfelt. Kein Stuck hängt an der Decke. Alles weiß in grau und grau in weiß. Eine Treppe führt hinab, dann ein schmaler Gang, von dem sich andere Gänge abzweigen und wieder eine Treppe in die Tiefe. Alle Sitzungssäle in Moabit sind mit dem Gefängnis und miteinander verbunden. Aber nicht nur hinab, auch in der Waagerechten kann man in verborgenen Gängen das Gebäude durchmessen.

Die Bögen nämlich, unter denen die Besucher hindurchgehen, wenn sie hinter zahllosen Türen den richtigen Saal nicht finden, sind nicht Bauwerk im eigentlichen Sinne. Die Bögen sind Seufzerbrücken, durch die die Gefangenen geführt werden, wenn sie von einem Teil des Gebäudes in einen anderen gebracht werden. Das eigentliche Labyrinth Moabits befindet sich unsichtbar hinter den Mauern und über den Köpfen der Besucher – und ohne Grix wäre man hier jämmerlich verloren.

Ohne Grix würde man nie den Blick hinter die Mauern werfen dürfen. Aber auch mit Grix ist das nicht möglich. Zwar hat er die Schlüssel, zwar ist er Herr von Saal und Zelle, aber niemals würde er sich verführen lassen, einen hinter die Kulissen blicken zu lassen. Das wäre, wie wenn ein Zauberer einem hinterher die Tricks verriete. Grix ist kein Spielverderber und niemand, der sich einfach um seinen Job bringen würde, indem er die Macht seiner Schlüssel mißbrauchte, Grix offenbart die Geheimnisse Moabits nicht. Das muß schon die Phantasie leisten. Nicht einmal die Guillotine will er zeigen, die angeblich im Keller auseinandergebaut liegen soll. Und auch die Zelle in der Tiefe, deren Schlüssel nicht nur betrachtet, sondern sogar kurz berührt werden darf, bleibt unbesichtigt.

Als Grix 1974 nach Moabit kam war es schon zu spät, um noch die Backpfeife mitzuerleben, die der Angeklagte Horst Mahler seinem Anwalt durch die schmale Öffnung seines schußsicheren Glaskastens verpaßt haben soll. Die extra wegen der ersten Terroristenprozesse gebaute Vitrine ist immer noch da. Heute entzieht sich Erich Mielke hinter ihren metallenen Querstreben dem Blick der Zuschauer und kommuniziert durch den Spalt mit seinem Anwalt – ohne zuzulangen.

Auch Horst Mahler ist wieder da. Heute allerdings als Anwalt. Er vertritt den mutmaßlichen Berliner Unterweltsmafioso Klaus Speer. In einem Mammutverfahren wie diesem ist Grix gefragt. Hier muß er die Presse in Schach halten, die in den Saal drängt. Vor allem die Kamerateams sind unbeliebt. Sie schieben ihre Kameras und Ellenbogen egal wem in Rükken oder Brust und lassen Grix auch einmal ungehalten reagieren. Für die Saalherren sind das die aufregenderen Tage, die das tägliche Einerlei für einen Moment durchbrechen. Pedantisch prüfen sie die Pressekarten. Streng wird jeder abgewiesen, der sich nicht rechtzeitig einen Platz im Saal reserviert hat. Und mit großem Pathos, vor den Okularen der Objektive, wird dann die Öffentlichkeit hergestellt: „In der Strafsache gegen Klaus Speer, die Prozeßbeteiligten bitte eintreten.“

Dennoch: In Moabit ist es ruhig. Die Gummiknüppel, einzige Waffe der Justizwachtmeister, bleiben unbenutzt und weggeschlossen. Grix hat noch nie einen gebraucht. Und er gehört auch nicht zu jenen, die am Gürtel Handschellen tragen.

Grix trägt zwei Schlüsselbunde, sonst nichts. Der weniger spannende hängt verborgen in seiner Hosentasche. „Er ist für den Abtragdienst.“ Auf metallenen Wagen werden die Akten durch das riesige Gericht und dessen endlose Flure geschoben. Von einem in das nächste Zimmer, vom Geschäftsraum in das Richterzimmer. Den Aktenchauffeuren ist es strengstens untersagt, Einblick in die Unterlagen zu nehmen. Sie dürfen nicht in einem unbeobachteten Moment hinter einem Pfeiler verharren und einen Blick auf die von der Polizei angefertigten Bilder der Leiche werfen. Sie dürfen sich keinen Einblick in die Sachlage des Prozesses verschaffen, mit dem sie dann den ganzen Tag beschäftigt sind.

Das tägliche Grixsche Einerlei ist durch die Schlüssel vorgegeben. Hier der Abtragdienst, der eigentlich Flurfahrdienst heißen müßte, dort der Saaldienst. Am Rande positioniert, ein Tischchen an seiner Seite, ist er schweigend anwesend. Nicht auszumachen, ob er zuhört oder mit seinen Gedanken sonstwo weilt. Nur wenn im Mauerschützenprozeß ein Sachverständiger die Kalaschnikow erklärt oder die Verteidigerin ein fernsehreifes Plädoyer hält, steht er auf einmal auf. Mehr Verhandlungen als der fleißigste Richter während eines Lebens meistern kann, hat Grix in seinen knapp 20 Berufsjahren schon an sich vorbeiziehen lassen.

Dennoch darf er nicht mitreden. Die Auffassung der Justizwachtmeister ist nicht gefragt. Nie käme ein Richter auf den Gedanken, die Herren der Säle zu bitten, einen Vergleich zwischen diesem und jenem Rechtsfall anzustellen, einen Eindruck über die Glaubwürdigkeit des Angeklagten mitzuteilen. Und auch ein Justizwachtmeister würde nie den Richter bitten, an seiner statt den Saal aufzuschließen oder den Prozeß aufzurufen. Die Herrschaftsbereiche der Saal- und Rechtsherren sind säuberlich voneinander geschieden.

Vielleicht weil er nie gefragt wird, hat Grix so wenig zu erzählen. Die großen Prozesse der letzten Zeit, Honecker und Mielke, die Mauerschützenprozesse und etliche Verfahren wegen Mißbrauchs, haben sich nicht in seinem Gedächtnis eingenistet. Im täglichen Einerlei, so scheint es, werden auch die Prozesse einerlei. Erzählenswert findet Grix, daß auf den Türmen des Gerichts Turmfalken nisten. Dorthin würde er mich gerne führen. Doch die Türme sind der einzige Ort, für den Grix keine Schlüssel hat.

Man bräuchte schon ein Gerichtsfossil wie Heinz „Hoffi“ Hoffmann, wollte man etwas über die Prozesse der vergangenen Jahrzehnte in Moabit erfahren. Bis zu seinem Tod 1991 saß er fünfzig Jahre lang täglich als Zuschauer auf den Bänken in Moabit. Er beobachtete die Nazi-Justiz und erlebte die letzten Todesurteile mit, die erst 1949 mit Erlaß des Grundgesetzes abgeschafft wurden.

Aber auch wenn es nicht mehr um Leben und Tod geht, auch wenn der Schlüsseldienst ein tägliches Einerlei ist, auch dann darf der Saalherr seine Position nicht zu gering schätzen. Während der Verhandlung muß er alles im Blick haben. „Auch wenn es so aussieht, als würde ich nichts mitbekommen, ich weiß immer was passiert.“ Der Blick in die Zeitung, in den wenigen Räumen, wo das vor den Augen des Richters verborgen bleiben kann, ist verboten. Die Abwechslung im Gespräch mit den Kollegen nicht erlaubt.

Doch wenn das hohe Gericht sich zurückzieht – und sei es auch nur für Minuten –, dann hat Grixens Stunde geschlagen. Dann ist er für das Geschehen im Saal verantwortlich. „Sowie der Vorsitzende den Saal verläßt, habe ich das Sagen“ — und das bekommt man manchmal unangenehm zu spüren. Wenn der Saalherr es so will, schickt er die Zuschauer aus dem Saal heraus. Auf den kargen Fluren müssen sie dann den Fortgang der Verhandlung abwarten und dürfen den Saal erst wieder betreten, wenn der altbekannte Ruf ertönt.

Am Abend verlassen die Justizwachtmeister ihren Herrschaftsbereich. Dann müssen sie ihre Macht abgeben – und die Schlüssel. „Das ist eine ganz heikle Angelegenheit mit den Schlüsseln.“ Selbst wenn er nur einmal Brötchen auf der anderen Straßenseite holen will, muß Grix vorher die Schlüssel abgeben. Keinen Fuß darf er vor die Türe setzen, ohne sich ihrer vorher entledigt zu haben. Am Abend übergibt er sie dem Pförtner. Dort werden sie quittiert und weggeschlossen. Erst am nächsten Morgen, in aller Frühe, bevor andere Menschen ins Gerichtsgebäude kommen, holt er sie wieder ab.

Ein kleines Klebeband mit seinem Namen weist sie als ihm gehörig aus. Dann verschwinden sie wieder in Lederhalfter und Hosentasche und bestimmen den täglichen Dienst.