■ Zum Scheitern von Solidarpakt und Pflegeversicherung: Die Crux mit den Kompromissen
Wer nichts tut, macht keine Fehler. Dieses Motto aller Feiglinge und Drückeberger hat es im wiedervereinigten Deutschland zum Regierungsprogramm gebracht. Die letzte politische Entscheidung der Regierung Kohl war die zur Wiedervereinigung. Seither ruht sich die CDU/CSU/FDP-Koalition auf ihren Lorbeeren aus – obwohl mit dem Tag der Einheit am 3. Oktober 1990 die Schwierigkeiten, zwei völlig unterschiedliche Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme zusammenzuschmieden, erst angefangen haben. Gleichzeitig zeichnete sich schon damals ab, daß die soziale Sicherheit nach West-Standard ganz von selbst immer teurer werden würde.
Die Voraussetzungen für die Koalition, vorausschauend politische Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, waren zu Beginn der ersten einheitsdeutschen Legislaturperiode geradezu ideal: Eine nahezu wahlfreie Zeit lag vor ihr, und die westdeutsche Wirtschaft, vom Vereinigungsboom getragen, produzierte bis letzten Herbst Überschüsse, die ihr durchaus Verteilungs- und damit Handlungsspielräume ließen. Und zahnloser als die zu allen Konzessionen bereite SPD kann eine parlamentarische Opposition kaum noch sein. Statt die Situation zu nutzen, drückt sich die Koalition in einer Mischung aus Zweckoptimismus und Hilflosigkeit in der historischen Ausnahmesituation vor Entscheidungen. Deutliches Beispiel ist der Solidarpakt, den man beinahe FKK gekürzelt hätte (für „Föderales Konsolidierungs-Konzept“, das heute „Föderales Konsolidierungs-Programm“ heißt und entsprechend entschärft ist). War es nicht verdächtig, daß niemand, nicht einmal die taz, absolut dagegen war? Und niemand, nicht einmal die FAZ, sich für das FKP begeistern konnte? Der bundesrepublikanische Blätterwald rauschte bloß erleichtert auf, daß die quälende Solidarpakt-Diskussion endlich überstanden war. Ansonsten taten die Beschlüsse niemandem weh; nicht einmal den Bestverdienenden der Republik wurde das Kindergeld gestrichen.
Das alles hätte den Solidarpakt von Anfang an verdächtig machen müssen. Das Loch in der Kasse, das banalerweise entsteht, wenn mehr verteilt werden soll, als drin ist, tut sich jetzt folgerichtig im Bundeshaushalt auf. Wundern kann sich Waigel darüber nur, weil er die Rezession einschließlich Arbeitslosigkeit unterschätzt hat, und das nicht zu knapp – schließlich verdoppelt er beinahe die Neuverschuldung des Bundes in diesem Jahr. Wenigstens dabei zeigt der Finanzminister ein Höchstmaß an Berechenbarkeit: In seinen vier Amtsjahren schätzte er die Kosten der Einheit und damit den Finanzbedarf stets zu niedrig ein. Jedes Unternehmen würde seinen Finanzchef, jeder Verein seinen Kassenwart längst gefeuert haben. Auch wenn der Solidarpakt dieses Wochenende unverändert übersteht, kommt das Thema im Mai wieder auf den Tisch. Dann wird die nächste Steuerschätzung veröffentlicht, und Waigel wird sich wieder über das Ausmaß der Rezession wundern und später, nach wochenlangem Gezerre in Bonner Lobbies, noch kompliziertere Rechenkunststücke vorlegen. Ändern wird sich wieder nichts.
Ähnlich verquält verläuft die Diskussion der Koalitionäre über die Pflegeversicherung. Niemand bestreitet, daß sie beim wachsenden Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung extrem teuer wird. Sie darf aber, so der Minimalkonsens zwischen CDU- Blüm und FDP-Lambsdorff, nichts kosten – eine Quadratur des Kreises: Denn die Hin- und Herschieberei von Karenz- und Feiertagen überzeugt aus dem guten Grund, daß Äpfel nur bedingt mit Birnen verrechenbar sind, weder Arbeitgeber noch Gewerkschaften. Der zu befürchtende Kompromiß zwischen allen Interessensgruppen wird langfristig entweder nicht genug Geld für die Pflege alter Menschen in die Versicherungskasse bringen oder zu immer höheren Pflichtbeiträgen für die arbeitende und unternehmende Bevölkerung führen. Die Pflichtversicherung wird damit wie Renten- und Arbeitslosenversicherung entweder zulasten der konjunkturfördernden Kaufkraft und Investitionskraft gehen – oder neue Bundeszuschüsse benötigen. Das heißt Steuererhöhungen, Sparen oder Neuverschuldung auf deutlich höherem Niveau. Kein Wunder, daß es die SPD nicht zum Regieren drängt. Donata Riedel
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