„Wenn der Krieg vorbei ist, wird alles wieder gut“

■ Eine Lesung aus Tagebüchern und Briefen in Berlin-Mitte

Es bleiben noch einige Minuten, bis die Vorstellung beginnt. Absichtslos durchquert man die Räume der Ausstellung „Juden im Widerstand“ am Hackeschen Markt. Einzelne Wörter der Schautafeln haken sich fest: Transport, Sammellager, Geltungsjude, Mischling und immer wieder – Transport. Einzelne Bilder: das Paßfoto von Werner Scharff, Werner Israel Scharff, seine Unterschrift. Besondere Kennzeichen: fehlen. Hinter einer unauffälligen Tür – eine schmale Treppe. Sie führt hinab zu dem dunklen, durch Stellwände unterteilten Raum. Einige Takte der Parsival-Ouvertüre sind zu hören, dann Stimmen. Ein Mädchen geht an den Besuchern vorbei, die etwas ratlos im Gang stehenbleiben. Leise singt es ein SS-Lied, den Teddybären fest an den Leib gedrückt.

„Sehr selten habe ich geweint“ ist der Titel einer Lesung des Theaters TiefenEntTrümmerung (Regie: Ingrid Hammer). Sechs Schauspieler sitzen in dem Ausstellungsraum und lesen gleichzeitig aus Tagebüchern und Briefen der Jahre 1939 bis 1945. Es sind Lebenszeugnisse einer 19jährigen anonym gebliebenen Lübeckerin, die kurz nach Kriegsende umkam, eines Propaganda-Kameramannes und seiner Mutter, des SS-Hauptscharführers Landau, des KZ-Arztes Mennecke und der vierzehn Jahre alten Lilo G. aus Friedrichshagen. Kathrin Angerer spielt dieses Mädchen und hinterläßt den stärksten Eindruck. Schnürstiefelchen und ein gepunktetes Kleid trägt sie. In eine Nische gekauert, auf einem Schemel sitzend, verkörpert sie das fanatisierte Kind, das die Sprache der Mörder spricht – unschuldig und grausam. In ihr Tagebuch schreibt sie: „Wir müssen recht doll an den Sieg glauben, dann können wir nicht verlieren. Deutschland ist so schön und groß. Wenn Adolf Hitler uns zum Sieg führt, so hilft Gott, und alles ist gut.“ Die Stimmen der anderen mischen sich darunter, ein unablässiges Gemurmel und Geraune, von dem sich einzelne Sätze loslösen. „Jetzt bin ich endlich auch dabei!“ ruft der Kameramann, und für einen Augenblick herrscht Stille. Dann setzen die Stimmen wieder ein. Bleibt man auf dem Gang stehen, so dringen einzelne Worte ans Ohr: Gott, Liebe, dreckig, Lager, Tod. Wenige Meter entfernt sitzt Landau (Elmar Gutmann), eine erkaltete Zigarette zwischen den Lippen, und liest, was er 1941 notiert hat: „Heute um 9 Uhr hieß es: zur Exekution antreten. Nun gut, spiel' ich halt noch Henker und anschließend Totengräber, warum nicht.“ Hinter der Wand wird freudig das neue Jahr begrüßt. „Ahoi Matrose“, die Mutter schreibt an ihren „sonnigsten Sohn“, einer fragt: „Wer eigentlich hat Berlin kommandiert?“ Mit wachsender Unruhe geht man durch den verwinkelten Raum, von Sätzen umklammert, von Halbsätzen, von Worten: Transport, Arbeit, Tapferkeit, Jude. An die Wände sind Dias projiziert. Plakate mit Bekanntmachungen, Titelblätter des Völkischen Beobachters, Listen: „Wohnungsschlüssel evakuierter Judenwohnungen“, „Transporte“ – Name, Geburtsdatum, Geburtsort und Adresse. Das Böse ist nicht banal, es hat seine eigene Sprache, hat eigene Gesten, einen unverwechselbaren Ton. Das Mädchen blickt leer vor sich hin und redet vom Leben, vom Tod, von den Judenmorden, über die „Mutti“ berichtet hat – sanft, klar, unverzagt. Schließlich steht Lilo auf, setzt den Teddybär auf den Schemel und geht über die Treppe nach draußen. Plötzlich ist niemand mehr da. Es ist still.

Kaum zwanzig Besucher (mehr hätten es nicht sein dürfen, um ein Hinundhergehen ohne Störung zu ermöglichen) bleiben zurück, nachdenklich und mit den biographischen Fragmenten der sechs Personen alleingelassen, mit den Sätzen des Kindes, der Mörder und Zuschauer. Mit der Verordnung von 1942 „Juden haben alle entbehrlichen Kleidungsstücke abzugeben“ – einer von vielen, die am Ausgang an der Wand zu lesen sind. Und – mit dem Bild von Werner Scharff. Stephan Schurr

Die nächsten Vorstellungen finden vom 28. bis 30. Mai, jeweils um 19.30 Uhr, in den Räumen der Ausstellung „Juden im Widerstand“ (Rosenthaler Str. 38) statt. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Mai zu sehen; geöffnet Di. bis So. von 10 bis 18 Uhr.