Außer Reichweite

Monolog über den Gartenzaun hinweg  ■ Von Gabriele Goettle

In Mecklenburg gibt es Gegenden, die sind derart abgelegen, daß der Fremde entweder gar nicht hinfindet oder erst nach langem Herumirren. Ein solcher Ort ist Sapshagen. Es liegt am Ende einer Asphaltstraße, umgeben von riesigen Getreidefeldern und Koppeln, bestehend aus ein paar Wohngebäuden und Stallungen, und war zu DDR-Zeiten eine der Außenstellen des Kombinats für industrielle Mast. Heute gibt es nicht einmal mehr ein Ortsschild. Die Straße endet als wild überwucherte Allee an einer sturppigen Weide. Die Bäume rechts und links sind von Efeu umrankt. Es sind Pflaumenbäume, mehr als sieben Meter hoch.

Aus einem Backsteingebäude, das aussieht wie ein schlichter Berliner S-Bahnhof, kommt ein alter Mann in Arbeitskleidung, um nachzuschauen, weshalb sein Hund einen solchen Krach macht. Während ich auf den Alten zugehe, mustert er mich mißtrauisch. Sein Hund, ein spitzartiges Wesen, wirft sich mir wutentbrannt entgegen, bricht am Ende der Kette ruckartig in die Knie, nimmt erneut Anlauf und so fort. Das alles unter heftigem Gebell, in das unsere beiden Hunde eifrig miteinstimmen. Nachdem ich ihn begrüßt habe, sagt er:

M: ... ich dachte, es sind Zigeuner, die langen Haare und so, neulich erst wurde drüben in dem Haus eingebrochen.

G: Ist das hier Sapshagen?

M: Ja, ja ...

G: Ein Ortsschild ist nirgends zu sehen.

M: Das ham wir runtergenommen, sowas brauchen wir hier nicht!

G: Wie viele Einwohner leben denn hier?

M: Ich ...

G: Sie alleine?

M: Nee, noch drüben welche, dann der aus Berlin, der alle vier Wochen mal kommt, und vorne wohnen noch welche. Wollen Sie das kaufen hier? Aber eins sage ich gleich, nur über meine Leiche bekommen Sie mich hier aus dem Haus!

G: Da können Sie beruhigt sein, ich will weder was kaufen noch was verkaufen. Mich interessiert nur, was sich alles so verändert, seit 89.

M: Na dann is gut. Da war schon einer da aus dem Westen, mit sooo einem Mercedes, der wollte das alles hier kaufen. Pferdezüchter oder sowas, aus Bayern.

G: Wissen Sie den Namen noch, hieß der Schneider?

M: Keine Ahnung, nee ... ich bin schon über 50 Jahre in Sapshagen, da kriegt mich keiner weg! Das Haus hier ist 1944 gebaut worden, weil das Gutshaus ja abgebrannt war – das stand dort weiter hinten. Der Gutsbesitzer, der hier Herr war über alles, das war der Johann Schmidt ... die mußten dann ja weg damals ... aber gehnse mal nach vorn dort, der kann Ihnen alles ganz genau erzählen, die ersten Häuser ... da fragen Sie mal.

Wir fahren zurück zu den beiden einstöckigen Landarbeiterhäusern am Ortseingang. Der Verputz bröckelt, aus der Dachluke hängen Heubüschel heraus, und im Hof ist ein wildes Sammelsurium von Gerätschaften, Ersatzteilen und Brennholzbergen gehortet. Hinter dem Zaun tut der braunschwarz gescheckte Wachhund energisch bellend seine Pflicht. Nach einer Weile kommt eine schwergewichtige Frau in zerschlissener Kittelschürze zum Tor. Ihr langes, weißes Haar trägt sie offen, scharf an ihre Fersen geheftet folgt eine Schar junger Enten. Nachdem ich ihr Mißtrauen etwas beschwichtigt habe, sagt sie: „Mein Mann kann nicht mit Ihnen sprechen, der ist gerade dabei anzuspannen, weil er pflügen will.“ Aber da kommt er schon um die Ecke, in schweren Gummistiefeln mit Filzstulpe. Seine blaue Arbeitsjacke und Hose aus Drillich sind redlich ausgebleicht und nicht im Stone-Waschgang künstlich verarbeitet, irgendwie ist das ein angenehmer Anblick. Er reicht mir seine pratzenhafte Hand über den Zaun und drückt freundlich die meine zusammen. Sie sagt: „...sie will wissen, wie das hier alles so war vor der Wende und so ... ich geh mal wieder, ich muß füttern.“ (Im aufgeregten Geschnatter der Entenschar entfernt sie sich.)

M: Also erst war hier die LPG, dann kam das Rindermastkombinat, das war 1976. Sehnse mal, dort drüben in dem Steingebäude, da war der Stall. Das war ja ehemals nochmal so hoch wie jetzt. 48 im Herbst ist der Wind hinaufgefegt und hat das ganze Holz runtergeschleudert, so ein Sturm war das. Sie, sind Sie verheiratet?

G: Nein.

M: Na, mit Ihnen möcht ich mal alleine sein. (Er kneift das linke Auge zu.)

G: Wir sind ja alleine ...

M: (lacht donnernd) Sie sind gut. Na, wie alt schätzen Sie mich denn?

G: 70.

M: (etwas unsicher) Fast 70 ... aber ich kann immer noch ein Feld pflügen! Zwei schwere Arbeitspferde hab ich auf der Koppel hinten stehn, sehn Sie dort, grade wollte ich anspannen und meinen Acker pflügen. Aber es ist nicht mein Acker. Ich bin im Grundbuch eingetragen, angeblich ist das gestrichen worden. Aber sagen Sie mir mal, Sie sind doch ein gebildeter Mensch, sowas ist doch Urkundenfälschung! Alle kriegen ihrs wieder, nur ich nicht. Die KIM gibts nicht her, weil sie für das alles hier einen Käufer kriegen will. Aber ich ziehe vor Gericht, da werde ich mir meinen Acker erstreiten. Alle kriegen ihrs wieder, die Altbauern hier, sogar die ganzen Adligen in der Gegend kommen wieder, wos doch erst was anderes hieß, und Käufer aus dem Westen nehmens in Besitz. Da gehts um Hunderte und Tausende von Hektar, und ich soll meine neun Hektar nicht wiederkriegen. Ich war ja nur Siedler hier. Zuerst war ich Einzelbauer, der Gutsbesitzer Schmidt war schon weg. Sowie ich Pferde hatte und Vieh und mir mein Land und mein Haus so halbwegs gerichtet hab, da ham sie mir alles gleich wieder weggenommen. Mit Gewalt! Was sollte ich machen? Dann habe ich in der LPG als Schweizer gearbeitet ... wissen Sie was das ist?

G: Ja, Melker.

M: Sieh mal an ... da drüben im Stall 25 Kühe, morgens und abends, alles mit diesen Händen hier (er hält sie mir mit den Handflächen nach außen über den Zaun entgegen), vier Mann waren wir für 100 Kühe und wenn einer ausfiel, dann mußten wir seine mitmachen. Heute macht das eine Frau mit der Melkanlage ruck-zuck alleine. So um 2.000 Liter haben wir damals produziert am Tag ...

G: Die Kühe.

M: (verständnislos, dann kichernd) Das heißt bei uns so, ja, jedenfalls, dann kam VEG KIM. Die Kühe wurden alle nach Tintow gebracht und abgeschlachtet, dafür kamen hier Bullen rein, Mastbullen. 1976. Das waren die Bullen der KIM. Die hab ich dann alleine gemacht die ganzen Jahre über. Da mußte ich versetzt arbeiten, beim Ausmisten und solchen Sachen. Jedes Jahr hatte ich hundert Stück zu 13, 14 Zentnern.

G: Und die waren hier auf den Weiden?

M: Unsinn! Nichts Weide, immer nur im Stall, sonst ficken sie so viel (lacht verständnisheischend), die springen ja immer nur aufeinander die Bullen und dann nehmen sie ab und ich bleibe unter meiner Norm ...

G: Aha.

M: Und ich erzähle Ihnen da keine Märchen, das ist eine Tatsache, Bullen sind die Schlimmsten. Wenn die Brigadierin reinkam in meinen Stall, die Agronomin, Frollein B., wenn die da so langging an den Bulllen, dann fingen die der Reihe nach an zu wichsen. Ich sagte immer zu ihr: „Bloß nich reinkommen, Sie bringen mir die ganzen Tiere durcheinander mit ihrem Duft!“ Die haben gemerkt, daß das weiblich ist. Da waren die Bullen so ein Jahr alt ...

G: Und wann wurden sie geschlachtet?

M: Mit eineinhalb Jahren. Da kamen sie ja teilweise oft nach Westdeutschland. Oder weiter, nach Spanien und Italien, manchmal auch auf ein Schiff bis hinunter in den Orient, wo sie ja keine Schweine verzehren. Man hat sie fast immer beneidet um die lange Reise.

Ich bin ja schon mitgefahren gewesen nach Rostock in den Hafen. Da habe ich geholfen beim Verladen. Die kamen nach der Sowjetunion. Die Bullen waren im Lastwagen kurz angebunden, die ganze Nacht, da waren sie geladen morgens, kein Wasser, nichts. Da haben die natürlich Theater gemacht, bei Fremden noch viel mehr, aber auch ich hab allerhand abgekriegt. So einen Bullen müssen Sie sich mal vorstellen, da herrscht Lebensgefahr, wenn der wütet. Knochenbrüche hatte ich, Prellungen, am ganzen Körper.

Meine Bullen, das waren solche Schränke, ich kann Ihnen sagen. Wir hatten ja hier das beste Futter.

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Von sowas konnten andere nur träumen, wir haben halb Schrote, halb Silagen gefüttert. EMS (Eiweiß-Mais-Silage), Malz, dazu Grünfutter, alles. All die Jahre hatte ich privat immer noch eine Kuh, und ein Schwein zum Schlachten. Die wurden mit satt.

Aber nach der Wende war mit einemmal alles aus. Da wurde hier zugemacht. Kein Absatz mehr. Sie haben die Bullen abgeholt, die einjährigen, die gingen weg zum Schlachter, damit wars aus!

Was sagen Sie dazu? Mein Junge ist arbeitslos, dann hab ich noch zwei Mädels in Berlin, die eine ist Hoch- und Tiefbauingenieurin und führt acht Brigaden, die andere ist bei der Polizei. Zeit haben die nie, soviel arbeiten die Frauen. Aber wir haben ja hier alles, obwohl ja das Essen weggefallen ist und sowas. Ich hab mein Auto und ab und zu kommt auch ein Wagen mit Waren des täglichen Bedarfs, sowas, Trecker hab ich auch, so nen kleinen, aber eggen, pflügen tu ich mit den Pferden. So auf den Pferdearsch zu schaun, wenn das Tier gut bei Leibe ist, das ist schön. Mit denen gehe ich schon 20 Jahre, jetzt sinds meine. So ein Tier wird ja bis 30 Jahre alt. Da geht mir keins in den Schlachthof, die kriegen hier ihr Gnadenbrot, bis sie tot umfallen. 20 Gössel hab ich noch, die schlachte ich so für uns, alle paar Sonntage mal eins oder auch einen Hasen, ein Täubchen.

(Er bohrt ausgiebig im Ohr und betrachtet dann den kleinen Fingernagel lange.)

Trocken isses. So trocken wars noch kein Jahr. Zehn Hektoliter Wasser kosten zwei Mark heute, da rechnet man. Ein bißchen den Salat und die Blumen, damit hat sichs schon. Auf 16 Meter Tiefe ist das Grundwasser gefallen, früher stands bei fünf bis sechs Meter. Unten am See ist es auch zu sehen. Man sagt, es kommt, weil der Weten jetzt so viel entnimmt. Morgen sollen Schauer kommen, angeblich.

Was glauben Sie, ob ich mein Land wiederkriege?

G: Das kann ich nicht sagen, ich hör nur immer, daß die Alteigentümer als Wiedereinrichter erfolgreich sind. Sie müssen in Waren zu einem Rechtsanwalt gehen.

M: Denn sehnse mal, die Adligen kommen alle wieder, trotz Bodenreform, und kriegen ihrs. Was da mit dem Gorbatschow abgemacht war, da kräht doch kein Hahn danach. Die sitzen nach und nach wieder auf ihrem Besitz. Der, na, Malzahn, der Herr Baron, der ist wieder in Molzow, und in Schloß Grubenhagen der, ist auch wieder da. Ich will ja nur meine neun Hektar, da kann ich von leben. Das reicht mir.

Da, mein Haus, das hab ich aus Lehm gebaut mit eigenen Händen damals. Eine Reihe Ziegel gegen, das Dach drauf und fertig. Oben ist die Hälfte Heuboden, aber ich will mir das mal ausbauen. Hier gibts Lehm auf dem Acker, man braucht ihn nur holen. Lehm ist ein guter Baustoff. Im Sommer kühl, im Winter kalt (lacht). Meine Frau friert immer, ich ja nicht. Sie haben sie ja gesehen, das war früher eine stattliche Person. Diese Frau habe ich kennengelernt, da war ich auf Heimaturlaub. Sie stand in Rotkreuz-Uniform auf dem Bahnsteig, dienstverpflichtet, und hat Kaffee und Tee verteilt an uns Soldaten. Ich schau sie an, sooo eine Frau war das und sage: „Sie, Ihre Adresse hätte ich gerne, nach dem Krieg komme ich dann und wir heiraten.“ Sie hat mir ihre Adresse gegeben und nach dem Krieg hab ich sie dann gesucht, gefunden und geheiratet. Später als wir schon hier waren, mußten wir für die Russen Holz fahren im Winter, mit den Pferden. Das ganze Holz hier überall ist damals abgeschlagen worden, die ganzen Wälder. Später wurde dann wieder aufgeforstet. Das könnense heute überall noch sehen, daß die meisten Bäume im Wald keine 50 Jahre alt sind. Die Frau hat genauso schwer gearbeitet wie ich.

Aber man war ja noch jung, ich bin Jahrgang 23. Meine besten Jahre habe ich im Krieg verbracht. Da sind fast alle meine Kameraden totgeblieben. Ich hatte Glück. Hab nie still gestanden, habe immer ganz wenig gegessen, auch wenn viel da war. Noch heute esse ich ganz wenig. Ich war ja den Mangel und die Kälte gewohnt von zu Hause, wir waren arme Leute. In Rußland habe ich schreckliche Sachen gesehen, schrecklich! Man kann gar nicht darüber sprechen. 20 Stapel voller Leichen, meterhoch, alle aneinandergefroren. Und die Front hat sich bewegt, vor und zurück, vor und zurück. Immer wieder kamen wir an den Stapeln vorbei, man kannte schon jedes Gesicht und die Russen haben unsere mit dazugepackt. Da lagen Kinder drin, alles. Wir haben ja immer gedacht, es ist fürs Vaterland, aber wenn wir das gewußt hätten, mit den Konzentrationslägern und alles, wir wären zurückmarschiert, bestimmt! Wir alle hätten aufgehört Krieg zu machen. Aber man hat ja nichts mitgekriegt in Rußland, vorne an der Front ... nicht davon. Erst später erfuhren wir was, in Fankreich, wo ich dann zum Schluß im Einsatz war.

G: Aber da sind Sie nicht zurückmarschiert ...

M: Nee, da kam ich in Gefangenschaft.

G: Seit wann sind Sie denn hier in Sapshagen?

M: Seit eh ... 47 bin ich da.

G: Und wo kamen Sie her, 47?

M: Ich? Aus Amerika.

G: Amerika?

M: Amerika. USA. Gefangenschaft. 20.000 Mann waren wir im Lager. Fast zwei Jahre war ich dort, dann haben sie uns nach und nach entlassen. Ich bin auf dem Schiff gefahren, acht Tage dauert es, von Amerika bis Le Havre, dann weiter mit dem Güterzug nach Aachen, da gings sofort in die Quarantäne und danach habe ich mich aufgemacht und die Frau gesucht, gefunden und geheiratet. Hier haben wir dann neu aufbaun wollen.

G: Warum hat man Sie nach Amerika gebracht, weshalb kamen Sie nicht in Deutschland in irgendeins der Kriegsgefangenenlager?

M: Na, ich war ja bei so einer ... eh ... Sondertruppe vom Hitler ...

G: Welcher Sondertruppe?

M: Na eben dieser Elitetruppe...

G: Der SS?

M: Ja ja, der SS.