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Ministaat Palästina in Marj Al-Zuhur

Schon seit über vier Monaten leben die palästinensischen Deportierten im Zeltlager im Libanon  ■ Aus Marj Al-Zuhur Ivesa Lübben

Hinter dem letzten libanesischen Militärposten windet sich die schmale Straße um einen felsigen Hügel. Plötzlich taucht eine Reihe olivgrüner Zelte auf: das Lager der palästinensischen Deportierten an der israelisch-libanesischen Demarkationslinie, etwas außerhalb des israelisch besetzten Teils des Südlibanon am Ausläufer der Bekaaebene.

„Marj Al-Zuhur“ – Blumenwiese – heißt der Ort, wohin die israelische Armee am 17. Dezember 415 Palästinenser aus dem Gaza- Streifen und der Westbank deportierte, denen Kontakte zu den islamischen Widerstandsorganisationen „Hamas“ und „Dschihad- Islami“ vorgeworfen wurden. Mit der Massendeportation reagierte die Regierung Rabin auf sechs Mordanschläge gegen israelische Soldaten durch Hamas-Anhänger.

Inzwischen ist der Schnee geschmolzen, aber noch immer weht ein eisiger Wind. Statt der Blumen wächst spärliches Gras und Dornengebüsch auf dem steinigen Boden. Am linken Straßenrand sind über 120 weiße Fähnchen mit Datum nebeneinander in den Boden gesteckt – für jeden Tag des unfreiwilligen Exils eins. Rechts laden zwei Männer Kanister in einen verbeulten Opel, den ein libanesischer Sympathisant den Deportierten überlassen hat, um ihnen das Wasserholen von der zwei Kilometer entfernten Quelle zu erleichtern.

Eine kleine Steintreppe führt von der Straße zu einem der Zelte. Hier ist das provisorische Zuhause von Abdel Fatah Dukhan. Mit 60 Jahren ist er der älteste unter den jetzt noch 397 Lagerbewohnern. Der Schuldirektor aus dem Nuseirat-Flüchtlingslager im Gaza-Streifen weiß bis heute nicht, warum er hier ist. „Die israelischen Soldaten kamen nachts, klopften an die Haustür und sagten, sie wollten fünf Minuten mit mir reden.“ Vor der Haustür wurden ihm die Augen verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Was er danach mit über vierhundert Leidensgenossen erlebte, war die erste israelische Deportationsaktion, über die die internationale Presse ausführlich berichtete. Abdel Fatah leidet seit langem an einem Magengeschwür und braucht ständig Medikamente. Die Ärzte haben ihm geraten, viel Milch zu trinken und jede Aufregung zu vermeiden. Solch wohlgemeinter Rat ist hier kaum zu befolgen.

Ein Mann mit einem weißen Bart auf dem Matratzenlager neben Abdel Fatah richtet sich mühsam auf. Hamad El-Ayan El-Hassanat heiße er, und er sei 58 Jahre alt. Auch er sei Lehrer im Gaza-Streifen. Er leide an Diabetes und habe Herzprobleme. Erst vor drei Tagen hat er einen Schlaganfall erlitten. Absolute Ruhe hat der Arzt ihm verordnet. „Die Jungen hier im Lager helfen uns Alten, so gut es geht“, sagt er, „sie kochen für uns und waschen unsere Wäsche. Aber wie soll man sich über diese Situation nicht aufregen?“

„Gute Moslems sind auch gute Organisatoren“, sagt Ismael Al- Awadeh, der in der Stadt Hebron in der Westbank ein Ingenieurbüro hat. Noch am Tag der Ankunft in Marj Al-Zuhur bildeten die Deportierten Komitees, um das Alltagsleben zu organisieren. Das „technische Komitee“, dem auch Ismael Al-Awadeh angehört, machte sich daran, die Gegend zu erkunden, um festzulegen, wo die Zelte errichtet werden sollen, die von der UNRWA und dem Roten Kreuz zur Verfügung gestellt wurden. Der Platz mußte möglichst windgeschützt und der Boden durfte nicht zu steinig sein, damit die Heringe festhalten und die Winterstürme die Zelte nicht wegreißen. Die Männer zogen Gräben, damit das Regenwasser ablaufen kann, und unterhalb des Lagers errichteten sie aus Wellblech und Holz provisorische Toiletten.

Viele Libanesen schickten spontan Lebensmittel nach Marj Al-Zuhur, nachdem sie von der Deportation gehört hatten. Doch nach einer Woche schloß die libanesische Armee die Straße zum Lager. „Unsere Freunde im Libanon kamen danach 20 bis 30 Kilometer zu Fuß durch den Schnee und über die Berge, um uns etwas zu essen zu bringen“, erinnert sich Abdel Khaleq Najeh, eines der Mitglieder des Versorgungskomitees, das für Lagerung und Verteilung der Lebensmittel zuständig ist. „Trotzdem“, meint er, „die libanesische Armee hat richtig gehandelt. Die Israelis wollten die Verantwortung für die Deportierten auf die libanesische Regierung abwälzen und das Problem damit in Vergessenheit bringen.“ Das hätte die libanesische Armee verhindert, und die Deportierten müßten ihr dafür dankbar sein, auch wenn es hart gewesen sei.

Zeitweise wurde gefastet

Zeitweilig gab es kaum noch etwas zu essen, und die Deportierten mußten jeden zweiten Tag einen Fastentag einlegen. Inzwischen gibt es kaum noch Versorgungsprobleme. Ein Solidaritätskomitee in Beirut, dem mehrere palästinensische und libanesische Organisationen angehören, kauft alles Nötige und schickt es auf Eseln, die von den Bauern in den Dörfern gemietet werden, über die Berge an den Militärpatrouillen vorbei nach Marj Al-Zuhur.

Direkt gegenüber von Abdel Fatahs Zelt haben die elf Ärzte unter den Deportierten eine provisorische Klinik eingerichtet, in der sie mittlerweile sogar kleine Operationen bei örtlicher Betäubung durchführen können. Auch Leute aus den Dörfern, die sonst bis nach Beirut fahren müßten, lassen sich hier behandeln.

„Wir haben hier einen palästinensischen Ministaat“, sagt der 28jährige Omar Schqeir, der uns durch das Lager führt. „Wir haben sogar eine Universität.“ Khaled Dawib, vor seiner Deportation Student der Najah-Universität in Nablus, stieß im Lager plötzlich auf seinen Professor Dr. Awis. Schüler und Lehrer beschlossen, ihren Semesterkurs hier in den Bergen fortzusetzen. Doch dann stellte sich heraus, daß Dr. Awisi nicht der einzige Professor unter den Deportierten ist. Er fand 17 weitere Berufskollegen, und sie beschlossen, Kurse in palästinensischer Geschichte, Management und islamischem Recht durchzuführen. Ende letzten Monats hielten sie zeitgleich mit den Prüfungsterminen in den besetzten Gebieten Examen ab, die von den Universitäten in der Westbank und im Gaza-Streifen anerkannt werden.

Dr. Salam Ahmed Salama geht davon aus, daß die israelische Regierung mit der Deportation die intellektuelle Elite der Palästinenser zerschlagen wollte, um damit der Widerstandsbewegung gegen die Besatzung „den Kopf abzuschlagen“. Er ist Rektor der islamischen Universität im Gaza-Streifen. Mit 8 Professoren und 26 Verwaltungsangestellten ist die Islamische Universität besonders stark in Marj Al-Zuhur vertreten. „Die Islamische Universität ist das Herz der Intifada im Gaza-Streifen“, meint Dr. Salama. „Es ist die einzige höhere Bildungsinstitution, die wir dort haben. Und sie unterstützt wichtige Entwicklungsprojekte.“ Salama ist schon der dritte Rektor dieser Universität, der deportiert wurde. Über das Satellitentelefon, das die Deportierten installiert haben, versucht er die Universität von seinem unfreiwilligen Exil aus zu leiten, so gut es geht.

Die israelische Regierung hoffte offensichtlich, durch die Deportation eines Großteils der radikalen islamischen Intelligenz das Gewicht moderater PLO-Anhänger in den besetzten Gebieten zu stärken. Doch erreicht hat sie das Gegenteil. Marj Al-Zuhur wurde zur heimlichen palästinensischen Hauptstadt, das Votum der Deportierten kann kein arabischer Politiker ohne weiteres ignorieren. „Die palästinensische Verhandlungsdelegation in Washington vertritt uns nicht. Sie ist durch nichts demokratisch legitimiert“, sagt der Sprecher der Deportierten, Dr. Abdel-Aziz Rentisi, der als einer der Mitbegründer von Hamas gilt, heute aber jede organisatorische Verbindung abstreitet. Er sei Sprecher aller Deportierten. Beschlüsse, die in Washington gefällt würden, seien für die Deportierten nicht verbindlich. Mehr als irgendeine Autonomielösung würde bei den bilateralen israelisch- arabischen Nahostverhandlungen für die Palästinenser sowieso nicht herauskommen, meint er und warnt: „Die Unterschrift unter eine solche Verhandlungslösung wird den Frieden in der Region zerstören. Das palästinensische Volk wird Widerspruch gegen jede Lösung einlegen, die ihm mit Gewalt aufgezwungen wird.“

Wachsender Pragmatismus

Doch der Umstand, daß die palästinensischen Islamisten plötzlich im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit stehen, hat vor allem unter den Hamas-Anhängern zu wachsendem Pragmatismus geführt. Sie scheinen inzwischen ihre Frontalopposition gegen die PLO aufgegeben zu haben. „Wir wollen die PLO nicht zerstören, sondern demokratisch umstrukturieren“, sagt Dr. Rentisi und fordert demokratische Wahlen zum Palästinensischen Nationalrat, dessen Zusammensetzung bislang unter den PLO-Mitgliedsorganisationen ausgekungelt wurde.

Hinter den Kulissen diskutiert man bei Hamas zur Zeit über eine Änderung des Grundsatzprogramms. Das Fax-Gerät von Marj Al-Zuhur spielt dabei als Kommunikationsmittel zwischen Exil und besetzten Gebieten eine wichtige Rolle. Zur Debatte steht eine Neudefinition der Beziehung zur Moslembrüder-Internationale, von deren Zentralismus Hamas sich befreien möchte, und eine gemäßigtere Gangart gegenüber dem Westen und den arabischen Regimen. Diese Diskussion hat inzwischen zu Differenzen unter den Deportierten geführt, die mehrheitlich der Hamas und nur zu einem kleineren Teil dem radikaleren Dschihad-Islami angehören. Als der Dschihad-Islami an dem von Chomeini zum Jerusalem-Tag erklärten 16. März eine Demonstration organisierte, auf der israelische und US-Fahnen verbrannt wurden, verweigerte die Hamas- Mehrheit ihre Teilnahme. Sie wollten nicht den Eindruck erwecken, im iranischen Fahrwasser zu schwimmen.

Ein anderer Streitpunkt zwischen den beiden islamistischen Gruppierungen ist die Lage in Ägypten. Eine vom Dschihad-Islami vorgeschlagene Verurteilung des Vorgehens der ägyptischen Regierung gegen die „Gamaat Islamia“ wurde von den Hamas-Anhängern abgebügelt. „Wir mischen uns nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten ein“, erklärt Dr. Rentisi. Im übrigen würde niemand das Problem der Deportierten so gut verstehen wie der syrische Präsident Hafiz Al-Assad und sein ägyptischer Amtskollege Husni Mubarak, der vorletzte Woche in Washington über eine Lösung des Deportiertenproblems verhandelte, um die für den 27. April angesetzte 9. Runde Nahost- Friedensverhandlungen zu retten.

Die Deportierten sind voller Zuversicht, daß sie bald zurückkehren können. „Unser Volk wird die Welt dazu zwingen“, meint Omar Schqeir siegessicher. Am 2. Februar wurde sein zweiter Sohn geboren, den er bislang nur von Fotos kennt. Eine etappenweise Rückführung lehnt er kategorisch ab. „Gemeinsam mußten wir gehen, und gemeinsam werden wir zurückkehren“, lautet der einstimmige Beschluß. „Meine Frau würde sich scheiden lassen, wenn ich alleine zurückkäme“, sagt Omar Schqeir.

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