Sowjetische Erblast im Dauerbetrieb

■ Der Däne Freddy Blak hat mit einer EG-Delegation das AKW Ignalina in Litauen besucht

taz: Ihr konservativer Parlamentarierkollege, der Atomphysiker Christian Rovsing, hat nach dem Besuch des AKWs sofort massive technische Hilfe gefordert.

Freddy Blak: Ich glaube, es wäre sinnvoller, wenn die EG die drei Milliarden Kronen [etwa 800 Mill. DM, d. R.] zahlt, die es laut Experten kosten würde, das AKW unmittelbar stillzulegen. Was ich gesehen habe, war schlimmer als erwartet. Alles wird manuell gesteuert. Es gibt keinen einzigen Computer im Kontrollraum. Löcher neben Rohren im Beton sind mit Pappe zugestopft. Der Dampf, der oben auf dem Reaktor durch die Kühlung mit Wasser entsteht, kann nicht gesteuert werden. Wird er zu schlimm, legt die Bedienungsmannschaft einfach ein paar Bleiplatten drüber. Der Dampf kommt dann an allen möglichen anderen Stellen heraus. Der Brandschutz ist katastrophal.

Povilas Vaisnis, Chef der litauischen Kernkraftsicherheitsbehörde, spricht bei solcher Kritik von Panikmache.

Aber nur offiziell. Er hat zumindest in zweierlei Hinsicht Bauchschmerzen: Der ganze abgebrannte Atommüll, der sich seit 1984 angesammelt hat, lagert direkt neben dem Atomkraftwerk. Die Lagerkapazitäten sind erschöpft, und niemand scheint zu wissen, wo das hinsoll. Jetzt wird einfach an Plänen gearbeitet, das Lager mit Hilfe deutscher oder amerikanischer Firmen erweitern zu lassen. Und: Vaisnis hat ganz oben auf seiner Liste die Forderung nach einem automatischen Schnellabschaltsystem für den Katastrophenfall, insbesondere für ein Erdbeben oder einen Brand. Das fehlt nämlich völlig. Versagt die Mannschaft, hilft jetzt gar nichts mehr.

Haben die Hilfsprogramme der verschiedenen Länder die Sicherheit erhöht?

Da habe ich meine Zweifel. Keine einzige westliche Firma hat ja tatsächlich selbst im AKW nachgebessert. Wegen der ungeklärten Haftungsfrage wagt keine Firma, dort auch nur eine Schraube festzuziehen. Es werden nur Geräte und Instrumente geliefert, die dann von der Mannschaft in Ignalina selbst eingebaut werden. Es war kurz vor unserem Besuch eine Turbine auseinandergeflogen, und daran wurde noch gearbeitet: mit den Kontrollgeräten, die die Arbeiter haben, können sie nicht effektiv arbeiten. Ich bezweifle auch, ob sich die Mannschaft überhaupt der ganzen Gefahren bewußt ist. Es wird im Dauerbetrieb gefahren, an jedem Reaktor hängen 5.000 verschiedene Maschinen, die bis zum völligen Verschleiß heruntergefahren werden.

Es heißt, die Stillegung sei unrealistisch. 70 Prozent der litauischen Energieversorgung hängen an dem Atomkraftwerk.

Klar, wir können noch fünf Jahre darüber reden, daß eine Schließung und der Aufbau alternativer Energieversorgung unrealistisch sei, so wie wir es schon seit Jahren machen, ohne daß etwas geschehen ist. Wir können nicht hoffen und schreien, wir müssen jetzt ganz schnell zahlen und investieren, bevor das Ding endgültig in die Luft fliegt. Nicht zum Betrieb gibt es keine Alternative: zur Schließung gibt es keine. Und für diese Linie hoffe ich auf Unterstützung im EG-Parlament und in Brüssel. Interview: Reinhard Wolff