: Noch ein verlorenes Jahrzehnt?
Warum Brasilien seit zehn Jahren mit Inflation und Rezession kämpft: Lobbyisten haben die Regierung fest in der Hand, die föderalistische Verfassung verhindert fällige Reformen ■ Von Astrid Prange
Rio de Janeiro (taz) – Ganz Lateinamerika boomt, nur Brasilien stagniert. So jedenfalls sieht es die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID). Wachstumsraten von knapp zehn Prozent wie in Chile und Venezuela „sind im Vergleich zu den Industrieländern alles andere als bescheiden“, lobt BID-Direktor Enrique Inglesias die Latinos. Doch warum geht der wirtschaftliche Aufschwung ausgerechnet an Brasilien, zehntgrößte Industrienation und treibende Kraft Lateinamerikas, vorbei?
An Versuchen, das Land mit den kontinentalen Ausmaßen aus dem wirtschaftlichen Sumpf hinauszuziehen, hat es bisher nicht gefehlt. Zwischen 1980 und 1991 ließen die 144 Millionen Einwohner des Landes acht Wirtschaftsschocks über sich ergehen, lernten fünfzehn verschiedene Regelungen zur Lohnpolitik kennen, probierten 18 Wechselkurse und elf Indexe zur Berechnung der Inflation aus und verfolgten 21 gescheiterte Anläufe zur Verhandlung der brasilianischen Auslandsschuld.
Die Anstrengungen waren vergeblich. Die monatliche Inflationsrate Brasiliens liegt schon seit über einem Jahr bei knapp 30 Prozent, die Auslandsschuld beträgt immer noch 120 Milliarden Dollar, und die Armut großer Teile der Bevölkerung hat mittlerweile afrikanische Ausmaße angenommen. Nach dem neuen Weltbank-Bericht „Armut und Vermögensverteilung in Lateinamerika 1992“ stammen 57 Millionen (oder 44 Prozent) der insgesamt 130 Millionen Lateinamerikaner, die weniger als 60 Dollar im Monat verdienen, aus Brasilien.
Die Zukunftsaussichten sind düster: „Es gibt bedenkliche Indizien dafür, daß nicht nur die achtziger Jahre, sondern auch die neunziger Jahre als verlorenes Jahrzehnt in die brasilianische Geschichte eingehen werden“, meint der Wirtschaftswissenschaftler Celso Furtado. Nach Ansicht des 72jährigen ist die internationale Wirtschaftslage für die sogenannte Dritte Welt sehr ungünstig. „Die USA absorbieren 40 Prozent des auf der Welt verfügbaren Kapitals. Die Rohstoffpreise befinden sich im freien Fall, und das Zinsniveau ist hoch.“ Hinzu komme, daß nun die osteuropäischen Staaten bei Investitionsentscheidungen gegenüber Lateinamerika den Vorrang hätten.
Auch Brasiliens ehemaliger Finanzminister Mario Henrique Simonsen geht davon aus, daß Brasilien noch „ein, zwei verlorene Jahrzehnte“ vor sich hat. „Warum wächst Chile um neun Prozent im Jahr, und Brasilien schlägt sich seit Jahren mit Rezession und Inflation herum?“ fragt er provokativ und liefert sogleich die Antwort: Hinter den Anden gebe es feste wirtschaftliche Spielregeln, die für ein investitionsfreundliches Klima sorgen würden. Brasiliens Problem hingegen sei eindeutig politisch.
In der Praxis bedeutet dies, daß alle bisherigen Wirtschaftspläne stets dann scheiterten, wenn es darum ging, Ausgaben zu kürzen, um das nationale Defizit zu verringern. Doch statt Abstriche im Haushalt zu machen und dadurch Lobbyisten oder sonstige Interessengruppen zu enttäuschen, ziehen brasilianische Politiker es vor, die Notenbank anzuwerfen. Die durch die Verschwendermentalität hervorgerufene Geldentwertung drückt einseitig der Allgemeinheit die Lasten auf.
Dieser in Brasilien stark verwurzelte Klientelismus, der den Staat zum Handlanger privater Interessen umfunktioniert, ist nur ein Grund für die festgefahrene Lage. Ein weiteres Hindernis ausgeglichener Haushaltspolitik ist die brasilianische Verfassung vom Oktober 1988. Sie soll im Oktober dieses Jahres einer Revision unterzogen werden.
Ergriffen vom Geist der Demokratie, übertrugen die Verfassungsväter in dem Dokument den Bundesländern und Gemeinden über die Hälfte des brasilianischen Steueraufkommens. In ihrem föderalistischen Fieber, verständlich nach 25 Jahren Militärdiktatur, vergaßen die Verfassungsväter allerdings, auch die entsprechenden Aufgaben und Pflichten an Länder und Gemeinden zu übertragen. Konsequenz: Die Städte schwimmen im Geld, der Bund ist hoch verschuldet.
Die verworrenen politischen Umstände in den vergangenen fünf Jahren verstärkten das wirtschaftliche Chaos zusätzlich. Der überraschende Tod von Präsident Tancredo Neves, der 1985 von einer Wahlversammlung zum ersten zivilen Staatsoberhaupt nach der Militärdiktatur gewählt wurde, behinderte den behutsam geplanten Übergang zur Demokratie. Stellvertreter Jos Sarney, Mitglied der militärfreundlichen Arena-Partei, war politisch zu schwach, um durchgreifende Veränderungen durchzusetzen.
Präsident Fernando Collor de Mello, im November 1989 direkt vom Volk gewählt, enttäuschte die Hoffnungen der Brasilianer ebenfalls brutal. Zweieinhalb Jahre nachdem er die Wahlen als „Jäger der Korrupten“ gewann, wurde er vom brasilianischen Parlament seines Amtes wegen Bestechung enthoben.
Collors Vize Itamar Franco stand nach dem historischen Impeachment-Prozeß im Oktober vergangenen Jahres vor der einmaligen Gelegenheit, mit breiter öffentlicher Unterstützung und deutlicher Mehrheit im Parlament eine durchgreifende Wirtschaftsreform zu verabschieden. Doch auch Franco verspielte seine Chance. In nur sechs Monaten verschliß er drei Wirtschaftsminister ohne ersichtliche Resultate.
Die Erwartungen an Francos politische Handlungsfähigkeit sind inzwischen in der brasilianischen Öffentlichkeit auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Die quälenden 20 Monate, die dem 62jährigen noch zum Regieren verbleiben, werden deshalb bereits von dem bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf 1994 überschattet. „Itamars Regierung ist vorbei“, urteilt Mario Henrique Simmonsen. Wenn es dem Vize gelänge, die für Oktober geplante Verfassungsreform in Gang zu bringen, hätte er dem Land schon einen großen Dienst erwiesen.
Bleibt zu hoffen, daß die Brasilianer von ihrem nächsten Präsidenten nicht schon wieder enttäuscht werden.
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