Die Stimmen der Jemenitinnen sind gefragt

Heute wird im Jemen zum ersten Mal nach der Wiedervereinigung ein gemeinsames Parlament gewählt  ■ Aus Sana Dieter Ferchl

Zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung wird die Bevölkerung des Jemen heute ein gemeinsames Parlament mit insgesamt 301 Abgeordneten wählen. 2,7 Millionen JemenitInnen ließen sich in die Wählerlisten eintragen, darunter etwa eine halbe Million Frauen. Das sind rund 45 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. Nach dem neuen Wahlgesetz sollten ausdrücklich Maßnahmen ergriffen werden, um die Beteiligung der Frauen zu ermutigen. Neben den beiden Regierungsparteien stellen sich eine ganze Reihe neuer Parteien zur Wahl, die nach der Aufhebung des Parteienverbots gegründet wurden. Überraschend ist, daß die Mehrzahl der insgesamt 3.600 Kandidaten an keine Partei gebunden ist. Der ehemaligen nordjemenitischen Einheitspartei „Allgemeiner Volkskongress“ werden derzeit die besten Chancen eingeräumt.

Die einzige wirkliche Rivalin im Kampf um die Wählergunst haben die beiden alten Einheitsparteien jedoch voraussichtlich in der konservativen „Islah“-Partei, einer Allianz aus islamistischen Kräften und Stammesbündnissen. Bis jetzt teilen sich die „Sozialistische Partei“ des alten Südjemen und der „Allgemeine Volkskongress“ des früheren Nordjemen die Macht in der neuen Republik. Ali Abdullah Saleh, früher Präsident des Nordens, übernahm 1990 die Präsidentschaft, sein südjemenitischer Amtskollege wurde Vizepräsident.

Daß die beiden zerstrittenen Parteien angesichts der Wahlen um ihre Macht fürchten, zeigte ein Vorstoß, den sie im März, mitten im Ramadan, unternahmen: Auf Initiative der Sozialisten begannen Fusionsgespräche mit dem „Allgemeinen Volkskongress“. Man wollte sich in den Wahlen nicht gegenseitig die Stimmen abnehmen – zugunsten der „Islah“-Partei. Innerhalb der „Sozialistischen Partei“ fand sich aber schlußendlich keine Mehrheit für eine wahltaktische Elefantenhochzeit.

Während der letzten Monate hat ein ruhiger Wahlkampf stattgefunden. Die Gemüter hatten sich eher Ende letzten Jahres erhitzt, als gegen die horrenden Preissteigerungen demonstriert wurde und man sich über die neuen politischen Verfahrensweisen stritt, die sich die Jemeniten vor 2 Jahren geschaffen haben: Nach einer öffentlichen Debatte, die im arabischen Raum ihresgleichen sucht, hatten sie sich im Mai 1991 mit überwältigender Mehrheit für die neue Verfassung entschieden: für ein pluralistisches System, gegen die Einführung einer islamischen Rechtsprechung und für eine Gleichstellung der Frauen, die damit wahlberechtigt wurden – anders als im benachbarten Saudi-Arabien und in Kuwait.

Doch der ruhige Wahlkampf kann nicht über die zunehmend gespannte politische Lage im Jemen hinwegtäuschen. Die Zahl der Anschläge und Attentate vor allem auf Funktionäre der alten Einheitsparteien hat erheblich zugenommen. Einiges deutet darauf hin, daß zwischen den beiden früheren Regierungsparteien und der „Islah“-Partei ein erbitterter Kampf um die Macht ausgebrochen ist. In der letzten Woche kamen gleich sechs Personen bei einer bewaffneten Auseinandersetzung um, die von der staatlichen Nachrichtenagentur Saba am Wochenende als das Ergebnis eines persönlichen Streits“ dargestellt wurde. Es hieß, der Kampf, in den Vertreter der „Islah“-Partei und des „Allgemeinen Volkskongresses“ verwickelt waren, habe „nicht unmittelbar“ mit den anstehenden Parlamentswahlen zu tun gehabt.

Die Serie von Attentaten und blutigen Auseinandersetzungen begann bereits im September 1991. Betroffen waren vor allem Politiker und Einrichtungen der liberalen und linksgerichteten Parteien, hauptsächlich der „Sozialistischen Partei“. Regierungs- und Oppositionsparteien beschuldigten sich stets gegenseitig, für die Überfälle verantwortlich zu sein. Die Polizei meldete einzelne Verhaftungen von Tatverdächtigen, doch in keinem Fall wurden die Hintergründe aufgeklärt. Die Auseinandersetzungen sind mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Produkt der Wiedervereinigung. Die alten Eliten der beiden früheren Jemen tragen ihren Machtkampf hinter den Kulissen aus: nordjemenitische Stammesführer und Clans gegen die Nomenklatura des ehemals sozialistischen Südjemen.

Die mangelnde Aufklärung der Vorfälle führte zu heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsparteien und schließlich zu einem ernsthaftem Zerwürfnis. Ali Salim Al-Baidh, Vizepräsident und Vorsitzender der „Sozialistischen Partei“, zog sich aus der Hauptstadt Sana nach Aden zurück. Die Regierung war geraume Zeit kaum handlungsfähig.

Als Mitte letzten Jahres das Oberste Wahlkomitee gewählt wurde, verlagerte sich die innenpolitische Auseinandersetzung auf die Frage, wie die Wahlkreise gebildet werden sollten, deren Zuschnitt ja für den Ausgang der Wahlen von großer Bedeutung ist. Die schließlich angekündigte Verschiebung der Wahlen, die eigentlich schon für den November letzten Jahres beschlossen waren, rief die jungen Oppositionsparteien auf den Plan, die argumentierten, daß die Verlängerung der Amtszeit der beiden alten Einheitsparteien gegen die Verfassung verstoße.

Doch die Opposition holte sich damit auch ihre erste große innenpolitische Niederlage: Ihrem Aufruf zum Protest gegen den „Betrug an den Wählern“ und zum Generalstreik im November letzten Jahres folgte nicht viel. Die Parteien zerstritten sich über das weitere Vorgehen – und die Regierung nutzte die Gunst der Stunde zu einer Erklärung über die „technischen Ursachen“ der Wahlverschiebung. Die Bevölkerung wurde darauf hingewiesen, daß ein Streik die desolate Wirtschaftslage verschärfen werde.

Die Jemeniten drückt der Schuh zur Zeit in der Tat woanders. Lohnverfall, Inflation, Preissteigerungen und Arbeitslosigkeit machen ihnen bereits seit dem Golfkrieg das Leben schwer. In den großen Städten kam es im Dezember letzten Jahres zu spontanen Protestdemonstrationen, Kaufhäuser und staatliche Handelseinrichtungen wurden in Brand gesteckt. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei gab es nach offiziellen Angaben 15 Tote und über hundert Verletzte – inoffiziell war die Rede von mehr als 180 Toten.