■ Rußland auf der Schwelle zu einem normaleren Land
: Volkes Instinkt

Rußlands Wähler haben ein klares Urteil gefällt. Interpretationen sind nicht mehr zulässig. Trotz Einbußen im Lebensstandard und Aussichten nicht gerade rosiger Zeiten in unmittelbarer Zukunft entschieden sie sich für die Fortsetzung der Reformen – und dies noch mal mit Boris Jelzin an der Spitze. Seit Monaten hatte die krakeelende, aber kärgliche sogenannte Opposition ihm nahegelegt, aufs Altenteil zu gehen. Und der Westen in seiner Ängstlichkeit lieh ihr auch noch sein Ohr, als wäre sie die tatsächliche Stimme des Volkes. Die Russen kreuzten Sonntag an, wie es seit einem Jahr ihren Lebensumständen entspricht. Man muß nur hinschauen. Sie finden sich ab mit den Reformen – und sehen zu Jelzin noch keine Alternative. Denn noch gibt es sie tatsächlich nicht.

Die Russen haben ihre Politikfähigkeit unter Beweis gestellt. Viel mehr als die parasitären Elemente im Volksdeputiertenkongreß, die Rußland und das Volk auf den Lippen führen, aber nur das Baumaterial ihrer Datschas meinen. Politikfähiger auch als die Heerscharen von westlichen Kommentieronkels, die permanent das Chaos heraufbeschwören, aber den Kontrapunkt in Volkes Stimme nicht hören. Sie haben wahrscheinlich auch was anderes im Kopf. Und noch eins bekräftigt dieses Resultat. Die latente Demokratiefähigkeit der Russen. Noch sind sie es nicht, aber sie wollen dahin. Den Wurst-und-Wodka-Wüstlingen aus den Reihen der Nationalchauvinisten haben sie eine Abfuhr erteilt. Wodka, Wurst und Imperium sind keine Issues mehr, die die Leute zurück in die Arme der bevormundenden alten politischen „Elite“ treiben können.

Der Westen muß dieses Signal endlich wahrnehmen. Und dabei nicht gleich losschreien, wenn in der Transformationsperiode nicht alles nach den Spielregeln eines eingefahrenen demokratischen Institutionensystems läuft. Die geschlagenen Vaterlandsverteidiger werden schon heute aufheulen. Wahlkorrumption, Einseitigkeit der elektronischen Medien im Wahlkampf. Vizepräsident Ruzkoi wird wieder Fernsehsendezeit verlangen – und nicht erhalten. Es sind die Sterbensschreie einer untergehenden Klasse, die es mit Demokratie nie ernst genommen hat. Wäre sie ihr tatsächlich ein Anliegen, hätte sie dem Volk schon längst das gegeben, was es sich jetzt über das Referendum holen wird. Privatbesitz an Grund und Boden und die Freiheit, endlich selbst zu entscheiden, welchen Weg es gehen will. Nur Jelzin ist der Garant, der es mit diesen Hyänen des Bolschewismus aufnehmen kann. Es mag bereits fähigere Politiker in der nachrückenden Generation um Jelzin geben. Sie haben noch nicht die Statur, um es mit dem hinterhältigen Gegner aufzunehmen. Der Instinkt sagte es dem Volk. Klaus-Helge Donath, Moskau