■ Zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West
: Kein Projekt Deutschland

Die deutsche Einheit begann mit der Lüge, daß der Osten den Westen in einem Zeitraum von fünf Jahren aufholen könnte. Daran glaubt inzwischen niemand mehr. Die Aufholjagd des Ostens in der Größenordnung des Bruttosozialprodukts gleicht dem Wettlauf von Hase und Igel: wer fünf Jahre Zeit der Angleichung sagt, meint auch 30 Prozent mehr Wachstum im Osten, zwölf Prozent mehr Wachstum bedeuten 13 Jahre, und ein Wachstumstempo von sechs Prozent verlängert diesen Zeitraum auf 29 Jahre. Aber selbst diese Wachstumsrate ist inzwischen auch für Westdeutschland unrealistisch. Nehmen wir aber einmal an, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Westen bleiben relativ stabil, dann dauert das Projekt der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West zwanzig bis dreißig Jahre. Auf diesen Zeitraum ist weder die Politik noch sind die Menschen im Osten darauf vorbereitet.

Auch über die Finanzmittel, die der Westen zum Aufbau im Osten aufbringen muß, hatte sich die Politik gründlich verschätzt, und diejenigen, die Zahlen nannten, wurden als Gegner der deutschen Einheit beschimpft. Die anfängliche Unterschätzung wird nun durch eine Dramatisierung der staatlichen Transferleistungen abgelöst. Und wie immer soll der Besitzstand gewahrt bleiben: die reichen Bundesländer im Westen, die Besserverdienenden, die Selbständigen, die Beamten verteidigen den Status quo erfolgreich. Über ungerechte Belastungen der kleinen Einkommensbezieher und der Sozialversicherten wurde anläßlich des Solidarpakts gestritten, von den Zugewinnen durch neue Absatzmärkte in den neuen Bundesländern spricht man nicht.

Die Angleichung der Lebensverhältnisse ist aber nicht nur ein Thema der sozial gerechten Verteilung der Lasten. Sie betrifft in erster Linie die Menschen in den westlichen Bundesländern. Es geht auch darum, ob für die Ostdeutschen, die über lange Zeiträume auf den westlichen Lebensstandard verzichten müssen, dieses Ziel gleicher Lebensverhältnisse realistisch sein kann und ob es dazu Alternativen gibt. Soll ihnen eine neue Bescheidenheit gepredigt werden, die ein gutes Leben jenseits der Markierung Zeit und Geld bedeuten könnte? Gibt es überhaupt eine Alternative zur Jagd nach Wirtschaftswachstum und Einkommensmaximierung? Hat die Verbesserung der Lebensbedingungen im Osten eine Chance, wenn wir innerhalb des Modells der westlichen Industrieländer diskutieren, ohne die bereits dort erkannten Risiken und Fehlentwicklungen mitzudenken? Einer der Vordenker von Kurt Biedenkopf schlägt den Ostdeutschen daher vor, aus ihren überholten Denk- und Handlungsmustern umzusteigen in einen „extremen Individualisierungsprozeß“. Die Menschen müßten laut Miegel „extrovertieren“, denn „der Grund für die Überlegenheit des Westens ist ein tiefgreifender Bewußtseinswandel“. Na denn mal los, Modernisierungsrückstände aufholen! Die Orientierungsdaten für eine Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft liegen vor. Wir wissen vom Wandel der Familie, der Zunahme von Einpersonenhaushalten, Geburtenraten, Scheidungsraten, der Armutsgruppen, dem demographischen Wandel, der Pluralisierung von Lebensweisen und -stilen, der Politik- und Parteienverdrossenheit, um nur einige markante Merkmale der Modernisierung zu nennen.

Im Osten sind die Einkommensunterschiede noch weniger differenziert, wenn auch vergleichbare Lebenslagen, zum Beispiel von alleinerziehenden Frauen, bereits erkennbar sind und die Folgen der Arbeitslosigkeit einen Prozeß der Differenzierung eingeleitet haben. Wenn 40 Prozent der ostdeutschen Bürger von staatlichen Sozialtransfers (einschließlich der arbeitsmarktpolitischen Leistungen) abhängig werden, dann entsteht soziologisch gesehen ein sozialer Stillstand, der auch erklärt, warum viele Menschen in „Attentismus“ verharren und nicht ein aktiver Realismus um sich greift.

Natürlich können wir die Nivellierung von Einkommenslagen als Folge einer monopolitischen Machtelite und politischer Statuszuweisung deuten und auch den Mangel neuer Eliten, die die neue leistungsorientierte, extrovertierte Mentalität vorleben, als Folge einer erstarrten sozialen Entwicklung beklagen. Wir können die entwicklungsorientierende Rolle des Mittelstandes beschwören und gegen den immer noch existierenden Abwanderungsdruck aus den ostdeutschen Ländern argumentieren. Aber wollen wir den Ostdeutschen ernsthaft raten, so zu werden wie wir Westdeutschen?

Wenn sich die Ostdeutschen nicht auf die westliche Modernisierungskur einlassen würden, müßten sie sich beschränken und mit hohem Risiko an anderen Konzepten regionaler Wirtschaftsentwicklung orientieren. Vorbilder existieren nur in theoretischen Debatten, die allerdings aktuell in den Tiefenlagen linker Ideen und Bewußtseinslagen versunken sind. Denn Alternativen zum ungehemmten Wachstum der Industrieländer sind in den vergangenen Jahren breit diskutiert worden. Im Mittelpunkt dieser Diskussion standen die Krise der Arbeitsgesellschaft und die ökologische Krise der Technikentwicklung.

Wir finanzieren Arbeitslosigkeit, anstatt in Arbeit zu investieren. Konzepte einer neuen Verteilung der Arbeit sind gar nicht erst in die Diskussion der deutschen Einheit geraten. Die Chance für ökologische Investitionen ist zugunsten der verlängerten „Werkbank“ Ostdeutschland nicht genutzt worden. Und die Linke schweigt. Es erübrigt sich angesichts der allgemeinen Orientierungslosigkeit in der neuen Republik, die Frage zu stellen, ob es gelingen könnte, die Menschen in Ost und West für ein gemeinsames Projekt sozialgerechter Verteilung von Arbeit bei gleichzeitiger Umsteuerung der Industriegesellschaft auf ökologisches Wirtschaften zu gewinnen. Die Lähmung, die die Linke in der Bundesrepublik angesichts des drohenden Verlustes heimeliger westlicher Lebensqualität und des fernen realen Sozialismus ergriffen hat, breitet sich (man könnte es auch Freundbildverlust nennen) aus. Wie sollen die Menschen im Osten die noch existierenden gemeinsamen Erfahrungen des Bruchs in konkretes politisches Handeln münden lassen, wenn ihnen der Westen vormacht, wie man am Besitzstand festklammert und wie man praktische Solidarität verweigert?

Im Augenblick sind in Westdeutschland wenig Zeichen in Richtung eines gemeinsamen Projekts der deutschen Einheit erkennbar, das mehr sein könnte, als das Bewahrte zu bewahren und zu exportieren. Dies ist nicht nur eine Folge der derzeitigen politischen Führungslosigkeit, sondern auch der allgemeinen Abwendung vom Politischen als Sphäre des Allgemeinwohls. Und leider sind die existierenden reformorientierten Gruppen in Deutschland nicht in diesen Prozeß der Suche nach einer neuen politischen Identität der jungen Republik Deutschland eingestiegen und einbezogen.

Betrachtet man die derzeitigen politischen Konfliktlinien in Deutschland, zeigt sich eine Fixierung auf kulturelle und wirtschaftliche Besitzstände der großen Interessenverbände einerseits bei gleichzeitigem Ausschluß von immer größeren sozialen Gruppen. Die fühlen sich im Kampf der Interessen von rechtspopulistischen Parteien angesprochen, einzig und allein deswegen, weil sie im allgemeinen Getümmel von Verteilungskämpfen nicht vorkommen. Barbara Riedmüller

Professorin am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft in Berlin, unter Rot-Grün Wissenschaftssenatorin